39. Kapitel

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Es fühlt sich an wie Stunden, die ich zusammenkauert auf dem Boden verbringe.

Mein Zeitgefühl hat sich aber sowieso irgendwann in den letzten Tagen verabschiedet, also könnten es genauso gut nur Minuten sein.

Ich lehne mich immer noch gegen meine Mutter, als ich schließlich aufsehe.

„Tut mir leid", flüstere ich und deute auf das kaputte Bild.

Meine Mutter nimmt es in ihre zittrigen Hände und betrachtet es wie einen Schatz. Wie pures Gold oder die wahre Liebe.

„Schon gut", sagt sie schließlich. „Wir können es reparieren. Es ist nicht kaputt gegangen, nur der Rahmen und das Glas." Sie legt ihre Hand an meine Wange.

„Aber wie geht es dir, Eric?"

Ich öffne den Mund und bekomme doch kein Wort heraus, also zucke ich bloß mit den Schultern und fange wieder an zu weinen.

Silas drückt mich fest und Lyall steht auf und verschwindet in der Küche. Als er wiederkommt, hat er eine Kehrschaufel mit Besen dabei und fegt die Scherben und Splitter zusammen.

„Seid trotzdem vorsichtig, wenn ihr aufsteht!", erklärt er noch kurz, bevor er das Zeug verräumt und in der Küche bleibt.

„Ich lasse euch auch mal alleine", wispert Silas keine Sekunde später und folgt Lyall, nachdem er mich noch ein letztes Mal fest gedrückt hat.

Ich blinzle zu meiner Mutter, die mir die Tränen von den Wangen wischt.

„Komm", sie zieht mich hoch. „Wir gehen ins Wohnzimmer. Das ist gemütlicher als der Boden hier!"

Ich nicke und stolpere ihr hinterher.

Wir lassen uns auf das Sofa sinken und meine Augen heften sich auf den Sessel, auf dem mein Vater früher saß.

Es sticht in meiner Brust und ich keuche auf.

Meine Mutter nimmt meine Hand und drückt sie. „Die Erinnerungen tun weh, nicht wahr? Ich sehe Adrian überall. In diesem Sessel, neben mir am Küchentisch und ich vermisse ihn, wenn ich in unserem Zimmer bin. Er fehlt mir jetzt schon so sehr. Ich habe das Gefühl, ich werde mich nie daran gewöhnen. Dabei sind es nicht mal 24 Stunden?"

„Werden die Erinnerungen jetzt immer weh tun?", frage ich zittrig und kuschele mich näher an sie.

Meine Mutter schweigt für einen Moment.

„Als du klein warst, hat dein Vater dich immer in die Luft geworfen. Und du hast gelacht und..."

Ich unterbreche sie: „Und ich habe gesagt, dass ich der erste Wolf bin, der fliegen kann."

„Ja", meine Mutter streicht mir über die verwuschelten Haare. „Er hat dich sehr lieb, Eric, vergiss das nicht!"

Ich sinke tiefer in das Sofa und meine Mutter legt den Arm um mich und zieht mich näher zu sich.

„Ich glaube, jemanden zu verlieren ist eine Wunde, wie von einem Messer. Zuerst klafft sie weit auf und blutet und schmerzt so sehr, dass du an nichts anderes mehr denken kannst. Mit der Zeit beginnt sie aber zu heilen. Es bildet sich Schorf, der vielleicht hin und wieder reißt, aber irgendwann ist die Wunde zu. Und dann denkst du nur noch an sie, wenn du dich bewegst. Und irgendwann kannst du das vielleicht sogar mit einem Lächeln tun, weil du stolz bist noch zu leben."

Sie schaut mich liebevoll an: „Wir müssen das hier überstehen, dann tut es irgendwann nicht mehr so weh!"

Ich vergrabe meinen Kopf in ihrer Brust: „Da ist noch mehr. Nicht nur, dass es weh tut. Ich bin auch so wütend, weißt du?"

„Auf Adrian?"

Ich hebe erstaunt den Kopf. „Nein", bringe ich heraus, bevor ich stocke.

Bin ich wütend auf meinen Vater?

„Doch", wispere ich leise. „Auf Papa und auf den Jäger."

Meine Mutter nickt und lässt mir Zeit mich zu sammeln.

„Ich bin wütend, dass er uns verlassen hat", bringe ich schließlich heraus. „Und dass er mich davon abgehalten hat, den Jäger zu töten!"

Ich seufze: „Es ist gemein, so etwas über Tote zu sagen, oder? Papa hat sich sogar geopfert. Und trotzdem..."

Meine Mutter streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht, bevor sie mein Kinn hebt, damit ich ihr in die Augen schaue: „Für unsere Gefühle können wir nichts! Wir können sie weder kontrollieren noch ändern. Wenn du wütend bist, sei wütend. Aber verstehe auch wieso."

„Es fühlt sich so an, als hätte Papa nicht gewollt, dass ich je damit abschließen kann! Wie soll ich jemals zur Ruhe kommen, wenn ich den Jäger töten will, aber mich sein letzter Wille davon abhält?"

„Denkst du denn, dass du Ruhe findest, wenn du den Jäger tötest?", meine Mutter legt den Kopf schief.

Ich zögere: „Ich wäre weniger wütend..."

Meine Mutter seufzt: „Adrian und ich, wie alle Eltern, wollen dich und alle Kinder davor beschützen schwere Entscheidungen treffen zu müssen. Natürlich geht das nicht. Ihr wachst und werdet selbstständig, aber zu töten ist eine seltsam abschließende Entscheidung. Es wird nie wieder einen Weg zurück geben und die Last, die es mit sich bringt, trägst du für immer allein."

Sie richtet ihren Blick auf den Sessel: „Wir wollten nicht, dass du so etwas durchleidest. Als dein Vater jemanden getötet hat, war er... anders. Er hatte solche Angst sich dadurch zu verändern, dir kein guter Vater sein zu können. Er hat es für sein Rudel getan und durch diese Unterstützung kam er wieder auf die Beine. Aber wir sind keine gewaltbereiten Bestien. Wir haben ein Gewissen und auch noch Jahre später ist er manchmal schreiend aus einem Alptraum erwacht, in dem er diese Sekunden noch einmal erleben musste."

„Du sagst also, ich soll ihn nicht töten?", fragend sehe ich meine Mutter an.

Sie lacht: „Ich würde mir wünschen, dass du nie vor dieser Entscheidung stehen müsstest. Aber ja, ich will auch nicht wissen, dass du genauso leiden musst wie Adrian! Manche Menschen, besonders Werwölfe, unterschätzen die Schwere dieser Entscheidung. Aber ich bitte dich, töte nie leichtfertig oder aus Rache."

„Wie werde ich dann weniger wütend?", ich wispere diese Worte.

„Zeit", antwortet meine Mutter: „Und deine Freunde und Familie, die dich versteht und dich unterstützt. Du kannst mit mir reden, genauso wie mit Silas und den anderen. Vielleicht wird es dauern, aber es wird sich am Ende besser anfühlen, als Blut an deinen Händen kleben zu sehen."

Ich schmiege mich an sie: „Immer warten zu müssen ist schwer!"

„Das Leben ist schwer", flüstert sie zurück: „Aber solange wir uns durch die schweren Zeiten durchkämpfen, kommen auch wieder gute Zeiten!"

„Das hast du aus einem Kalender, oder?", müde reibe ich mir die Augen.

„Vielleicht", zwinkert meine Mutter mir zu.

Dann triefte ich in einen tiefen Schlaf.


Okay, das ist länger geworden als gedacht...

Naja, mal schauen wie regelmäßig nächste Woche Kapitel kommen, Schule fängt wieder an und die mündlichen Prüfungen klopfen an der Tür (gut ich übertreibe, aber meine Lehrer sind davon felsenfest überzeugt!)

Danke auch für eure Unterstützung! <3

Wir sehen und beim nächsten Kapitel


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