58. Kapitel

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Der Schnee ist rot.

Tiefes, blutiges Rot, überall. Ungläubig starre ich die Körper, die im roten Eis liegen. Ich kann nicht sagen, wie viele davon noch atmen. Aber zumindest für die Wölfe darunter, wünsche ich es mir von ganzem Herzen.

Dann entdecke ich das bronzene Fell, das zwischen den übrigen Jägern aufblitzt.

„Da ist Lyall!", ich stupse meine Mutter an. Sie nickt, aber ich bezweifle, dass sie mir tatsächlich zuhört.

Ihr Blick schweift über die kämpfende Masse. Dann über die Leichen am Boden. Dann sieht sie mich an. Ihre Augen sind groß und blau. Und es stehen Tränen darinnen. „Deswegen bin ich auch gegangen..."

Ich lasse sie am Rande des roten Schnees stehen und schiebe mich zwischen den Bäumen hindurch, bis ich meinen Bruder erreicht habe.

Er umkreist gerade zusammen mit Alex einen Jäger, der sich unsicher an einen Baum presst. Sein Blick huscht zu mir, als ich näher trete und ich sehe das stumme Flehen in seinen Augen. Alex und Lyall sehen es nicht.

Alex springt vor und schnappt nach dem Bein des Jägers, der aufschreit und zur Seite ausweicht. Er reißt ein Messer hoch, aber bevor es Alex treffen kann, wirft sich Lyall an seinen Arm und verbeißt sich in der Jacke. Ich kann nicht sagen, ob sie auch das Fleisch erreichen, aber der Jäger schreit, vor Schreck oder vor Schmerzen.

Leider fängt er sich wieder, packt das Messer mit der anderen Hand und stößt es meinem Bruder in den Bauch. Ich schreie auf.

„Keine Bewegung! Wenn du irgendetwas tust, schieß ich dir den Kopf von den Schultern!" Meine Hände umklammern zitternd die Waffe, die ich auf den Jäger richte und er starrt mich verwirrt an. Vermutlich hat er ich für eine von den anderen Jägerinnen gehalten.

Alex wirft mir einen Blick zu. Schön dich zu sehen, Kleine. Wir waren eigentlich auf dem Weg dich zu retten!

Ich lächle ihm schwach zu. Aus dem Augenwinkel sehe ich eine Bewegung und ich habe geschossen, bevor ich registriere, was passiert ist. Der Schuss knallt neben meinem Ohr. Danach ist es still. Dumpf und still. Ich kann nicht einmal mehr die Kampfgeräusche der anderen hören. Benommen schüttele ich den Kopf, bevor ich mir ansehe, auf wen ich eigentlich gerade geschossen habe.

Scheinbar hat sich der Jäger trotz meiner Warnung bewegt und wollte sich aus dem Staub machen. Jetzt bewegt sich sein Mund, sein Gesicht ist schmerzverzerrt und er hält sich die blutende Schulter. Das Zielen sollte ich wohl noch üben.

Ich stiefele zu ihm und knie mich auf den Boden, um Lyall untersuchen zu können, der an den Füßen des Jägers liegt. Meine Hand schwebt unsicher über seinem Kopf. Ich kann ihn nicht berühren. Was, wenn er kalt und leblos ist? Wenn er nicht mehr atmet?

Meine Hand zittert, bewegt sich aber kein Stück nach unten.

Plötzlich ist Alex an meiner Seite und auf der anderen meine Mutter und sie dreht Lyalls Körper vorsichtig zu mir.

Verdammt, das tut weh!, hallt sie Stimme meines Bruders in meinem Kopf und auch wenn es seltsam klingt, weil immer noch alles so leise ist, schluchze ich erleichtert auf.

„Du lebst!", ich streichle sanft über seine Ohren und er schmiegt sich als Antwort in meine hohle Hand.

Das Messer hat mich kaum richtig erwischt. Er hat mir nur gleichzeitig noch die Faust in den Magen gerammt, davon ist mir schwummrig geworden.

Er richtet sich etwas auf und leckt sich kurz über das dünne, rote Rinnsal, das seinen Bauch hinunter läuft. Als Hände ihn wegschieben und stattdessen eine Kräuterpaste auf die Wunde drücken, schaut er auf.

Was machst du eigentlich hier, Mama?

„Ich habe Valerie aus der Hütte geholt, mein Kleiner. Und beweg dich nicht. Tut dir sonst noch etwas weh?", sie mustert ihn besorgt.

Er schüttelt müde den Kopf. Ich hab vorhin ein paar üble Kicke einkassiert und meine Augen tränen immer noch, aber ansonsten geht es eigentlich. Nur mein Bein krampft irgendwie.

Meine Mutter tastet besagtes Bein vorsichtig ab und seufzt dann. „Du könntest dir den Muskel gezerrt haben, aber sicher bin ich mir nicht. Kannst du noch laufen?"

Lyall nickt. Ist schön, dass du hier bist, Mama!

Sie lächelt und verstrubbelt ihm das Fell. Mein eines Ohr fiept noch etwas, aber ansonsten kann ich wieder problemlos hören.

Alex drückt sich kurz an meine Seite. Wir sind soweit fertig. Aber wir müssen unbedingt zu Hanako's Gruppe. Ein paar Jäger sind in ihre Richtung abgehauen und ich will nicht, dass sie Probleme bekommen, wenn jetzt eine Verstärkung kommt!

Wir nicken und meine Mutter schaut sich betrübt um. Die einzigen Jäger, die noch hier sind, sind entweder schwer verwundet oder tot. Fünf mit dem Jäger, der sich immer noch die Schulter hält.

Zwei davon rühren sich nicht mehr. Bei den Wölfen ist es nur eine unbewegliche Gestalt.

Meine Mutter steht auf, ihre Tasche fest umklammert und atmet schwer durch. „Ihr geht, ich bleibe hier und helfe denen, die es noch brauchen."

Sie wirbelt herum und im hellen Licht, das vom Schnee reflektiert wird, leuchten ihre Haare wie ein Feuer. „Passt auf euch auf, ja? Versprecht ihr mir das?"

In ihren Augen stehen Tränen. Ich nicke, mein Mund ist staubtrocken.

Lyall neben mir schluckt schwer und senkt den Kopf. Wir kommen wieder zu dir zurück. Und auf Vater passen wir auch auf. Uns wird nichts passieren.

Ich schaue zu Boden. Versprechen, die man nicht halten kann, sollte man nicht geben. Aber meine Mutter lächelt, auch wenn es gequält wirkt. „Okay."

Alex nickt ihr zu. Meine Frau und ich werden auf die beiden aufpassen. Die anderen bleiben hier und helfen dir.

Sie bedankt sich und wendet sich zu dem Wolf, der sich gerade mühsam zur leblosen Gestalt im Schnee schleppt.

Alex heult nach Marie und keine Sekunde später kommt sie auf uns zu. Ihr eines Ohr blutet, aber ihre Augen sind wach und voller Liebe, als sie Alex kurz über die Ohren leckt.

Gehen wir!, verkündet Alex und wir machen uns auf, um Hanako zu helfen. Ob Eric wohl bei ihr ist?


Tja, aufmerksame Leser werden diese Frage sicher schon beantworten können, aber wir lassen Valerie mal die Hoffnung, okay?

Nächstes Mal geht es dann wieder um Silas, also genau zu der Gruppe, zu der die anderen jetzt wollen. Mal schauen wie es da so aussieht ;)

Bis dann 😊

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