66. Kapitel - Valerie

22 3 0
                                    


Ich werde verrückt.

Ich kann beinahe spüren, wie meine Vernunft aus allen Poren quillt und meinen Körper verlässt. Das letzte bisschen Geduld ist aufgebraucht und meine Selbstbeherrschung läuft Amok.

Sie treiben mich in den Wahnsinn.

Allen voran Myriam, die Zara hinter sich her schleift und ihr begeistert von allem und jedem erzählt. Ist ja schön, dass sie so gute Laune hat, aber eigentlich sollte sie ihre Tage damit verbringen zu schlafen oder in seltenen wachen Momenten die Decke der Krankenhütte anzustarren.

Myriam erholt sich zwar gut, trotzdem hatte sie viel Blut verloren und muss sich noch ausruhen.

Zara macht es nicht besser. Ich mag sie, wirklich, aber ihr Rot-werden und Herumgestottere, wenn Myriam sie auch nur eine Millisekunde zu lange ansieht, kosten mich meine letzten Nerven.

Wahrscheinlich bin ich eifersüchtig. Das weiß ich.

Und ich gönne, Myriam und Zara all das Glück, das sie finden können.

Aber.

Aber, warum ist es bei Eric und mir nicht auch so?

Warum kann er mir nicht auch zur Seite stehen?
Warum kann ich ihn nicht stützen?

Ich seufze, wende mich von meinen beiden Freunden ab und zu der Person, die mir ebenso Kopfschmerzen bereitet, wie alles andere.

Meine Mutter summt fröhlich, während sie irgendeine Paste aus Heilkräutern zusammenmischt. Ihre Armreifen klimpern, wenn sie sich nach neuen Zutaten streckt. Und dabei immer wieder, wie zufällig, über die Schultern meines Vaters streicht, der neben ihr steht und sich seit einer geschlagenen Stunde nicht von der Stelle gerührt hat.

Ehrlich, Leute? Müsst ihr mir unter die Nase reiben, dass mein Liebesleben als einziges kurz vor dem Zusammenbrechen steht?

Ich ignoriere das Geflirte meiner Eltern und schiebe mich an meiner gurrenden Mutter vorbei, in Richtung Vorratskammer.

Die ganzen Verletzten konnten wir natürlich nicht, ohne Erklärung in ein Krankenhaus schicken, weswegen meine Mutter es sich mit den anderen Rudelärzten zur Aufgabe gemacht hat, sie hier bestmöglich zu Versorgen. Nur die wirklich Schwerverletzten haben wir einliefern lassen.

Und die begraben, für die alle Hilfe zu spät kam.

Die Trauerfeier ist gerade eine Woche her. Ich schlucke und denke an die vielen ausgescharrten Gräber im Wald.

Dann greife ich nach einer entzündungshemmenden Salbe und trete wieder hinaus in das helle Sonnenlicht. Ich blinzle hektisch und versuche die weiß-reflektierenden Stellen des Schnees möglichst nicht anzusehen, während ich zu einer der Hütten laufe.

Bald ist Weihnachten, oder?

Würde sich Eric über ein Geschenk freuen?

Er braucht Zeit. Das haben Silas und Hanako gesagt. Und ich habe ihm Zeit gelassen. Ist eine Woche nicht genug? Wahrscheinlich nicht.

Ich klopfe an die Tür und trete ein.

„Flo, bist du da?", rufe ich in den Flur.

„Wo sollte ich denn sonst sein? Auf einem Spaziergang im Wald?" Flos Stimme klingt bitter und ich folge ihr ins Wohnzimmer. Die Möbel sind an die Wände geschoben und im Rollstuhl vor dem Fenster sitzt ein grimmig dreinblickender junger Mann.

Er dreht den Rollstuhl in meine Richtung und verzieht das Gesicht zu einem halben Lächeln.

Ich ignoriere die bitteren Sticheleien und knie mich vor ihn. „Hallo, Brummbär. Wenn du Spazieren fahren willst, brauchst du bloß Bescheid zu sagen. Niemand hält dich auf."

By your sideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt