56. Kapitel - Valerie

24 3 0
                                    


Ich starre missmutig die Wand an.

Vor drei Tagen habe ich mich noch darüber gefreut, die Wand überhaupt sehen zu können, aber so langsam erschöpft sich die Aussicht.

Als ich mich endlich genug beruhigt hatte, um mich zurückzuverwandeln, war der Schader leider schon angerichtet. Ich konnte hören, wie George, dieses Arschloch, sämtliche Jäger, die er kannte, in die Hütte beordert hatte. Und er hatte natürlich Fotos gemacht, nachdem sich alle satt gesehen hatten.

Ich bin schuld, dass unser wohlgehütetes Geheimnis aufgeflogen ist.

Am ersten Tag habe ich noch geheult. Dann hatte ich nicht mehr genug Wasser in mir und ich war zu müde, um mich noch um meine Gefühle zu kümmern.

Ich sitze seit drei verdammten Tagen gefesselt auf diesem Stuhl und meine Beine sind mehr als nur einmal eingeschlafen.

Am zweiten Tag dachte ich, dass es nicht mehr schlimmer werden könnte.

Dann haben die Jäger angefangen über ihre Pläne zu sprechen. Ich dachte mein Herz würde explodieren, als ich gehört habe, dass sie wissen, wo die Lager sind.

Der dritte Tag war einfach nur furchtbar.

Ich saß alleine mit meiner Angst in der Hütte und konnte nichts tun. Meinem Rudel nicht helfen, ich konnte sie nicht einmal warnen.

Vor einer Stunde etwa sind die Jäger dann ausgerückt und haben ihren Angriff begonnen. Und ich sitze schon wieder nur mit meiner Angst hier.

Die Fesseln schneiden mir in die Handgelenke und ich bin zu schwach, um irgendeinen Ausbruchsversuch zu unternehmen. Außerdem stehen zwei Wachen vor der Tür.

Trotzdem zerre ich immer wieder an den rauen Seilen. Wenn die Wachen sich dazu entscheiden, mich einfach loszuwerden, will ich nicht völlig wehrlos sein.

Ich atme tief durch und konzentriere mich auf die Fingernägel meiner linken Hand. Nur ein einziges Mal, soll diese bescheuerte Teilverwandlung auf Kommando funktionieren!

Meine Finger zucken unruhig, aber es passiert nichts. Ich schnaube genervt.

Dann kneife ich die Augen zusammen und halte den Atem an. Wenn es mit Ruhe nicht funktioniert, dann eben mit Panik.

Die Lager werden angegriffen. Ich stelle mir Silas Cousins vor, die Welpen, mit denen ich gespielt habe, angsterfüllt in einer Ecke zusammengekauert. Hanako, die immer noch um ihren Mann trauert und jetzt mit noch mehr Verlust kämpfen muss. Meinen Vater, niedergeschossen wie Adrian. Myriam, blutend daneben. Ich sehe Silas und Lyall, dicht aneinandergeschmiegt, leblos am Boden liegend.

Und ich sehe Eric. Allein, verletzt und verlassen. Mein Herz krampft sich zusammen.

Vor meinen Augen beginnen schwarze Punkte zu tanzen und meine Lunge bebt scherzhaft in meinem Körper. Ich lasse meinen Atem los und atme, atme, atme.

Panik füllt meinen Kopf, verdrängt die Bilder und lässt nur den Schmerz zurück.

Mühsam lenke ich meinen Fokus wieder auf meine Hand und dieses Mal funktioniert es tatsächlich. Ich spüre, wie die Haut um meine Nägel aufplatzt und Fell und Krallen daraus wachsen. Der Schmerz zieht sich meinen ganzen Arm hoch, aber ich beiße die Zähne zusammen.

„Keine Narben mehr!", flüstere ich gepresst und mein Kopf wird klarer. „Keine Narben!"

Die Schmerzen verblassen etwas und ich zupfe mit dem sehr viel spitzeren Krallen an dem Seil. Meine Fingerglieder sind stärker zusammengewachsen, was es schwieriger macht, das Seil zu erreichen, aber schließlich reißt es.

„Danke", seufze ich erleichtert und ein paar Tränen fallen mir die Nase entlang.

Ich betaste vorsichtig meine Handgelenke und zische, als das Gefühl in die aufgeschürften Stellen zurück kehrt.

Die eine Hand ist immer noch wölfisch und ich versuche mich zu entspannen, damit das Fell und die Krallen verschwinden, schaffe es aber nicht. Nach ein paar Minuten gebe ich auf. Dann halt nicht!

Etwas stößt gegen die Tür und das dumpfe Knallen reißt mich aus meiner Frustration.

Haben die Jäger sich dazu entschieden es jetzt zu Ende zu bringen?

Ich mache mich kampfbereit und hebe eine Faust und eine halbe Pfote zur Abwehr.

Die Tür öffnet sich knarzend und meine Mutter tritt in die Hütte.

„Valerie!", ruft sie freudig aus und reißt die Amre nach oben, als ob sie mich umarmen wollen würde. Ich taumele zurück. „Was machst du hier?"

Sie hat sich kein Stück verändert, auch wenn bestimmt vier oder fünf Jahre vergangen sind, seit ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Ihre feuerroten Locken fallen in einem langen Zopf ihren Rücken hinunter und die bunten Tücher und Bänder, die sie hineingeflochten hat, leuchten förmlich im hellen Licht, das von außen herein scheint. Meine Mutter hat dadurch außerdem einen Heiligenschein und sieht somit aus, wie eine Hippie-Heilige.

„Ralf hat mir eine Nachricht geschickt und hat gefragt, ob ich dich nicht hier rausholen könnte. Ach, er ist immer noch so verstockt höflich! Ich meine...", sie stockt, als sie meinen wütenden Gesichtsausdruck bemerkt. „Stimmt etwas nicht, Liebes?"

„Er hat dir eine Nachricht geschickt?", schnaufe ich ungläubig. „Per Taubenpost, oder was?"

„Natürlich per Handy, Dummerchen!", sie lacht und schreitet zu mir. „Zeig mal deinen Arm."

Ich halte ihr beide hin.

Sie starrt meine Wolfspfote an und für einen Moment huscht ein Ausdruck über ihr Gesicht, den ich nur als Bereuen beschreiben kann. Dann greift sie sie und massiert die Haut knapp oberhalb des Fellansatzes.

„Das entspannt deine Muskeln und sollte...Aha", sie unterbricht ihre Erklärung, als sich das Fell in meine Haut zurückzieht und die Knochen auseinanderbrechen. Ich beiße die Zähne zusammen.

„Und für dann noch...", murmelt sie abwesend und zieht eine Kräuterpaste aus der Tasche, die sie mir auf die wunden Stellen schmiert.

„Wie...", beginne ich, werde aber sofort unterbrochen. „Wie ich an den Jägern vorbei bin? Ach, ein bisschen Pulver aus Mohnsamen, Baldrian, Nelken, Passionsblume und..."

Dieses Mals unterbreche ich sie. „Ich will kein scheiß Rezept von dir! Warum bist du hier?"

Sie sieht mich erstaunt an. „Weil du in Gefahr warst, Kleines. Es ist doch selbstverständlich für eine Mutter dir dann zur Hilfe zu kommen!"

Ich verdrehe die Augen und entziehe ihr meinen Arm.

„Eine tolle Mutter bist du!"


Ja, damit hattet ihr nicht gerechnet, oder?

Im nächsten Kapitel werdet ihr dann ein bisschen mehr über die Mutter-Tochter-Beziehung erfahren, nachdem wir davor die Vater-Sohn-Beziehung hatten ;)

Bis dann 😊


By your sideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt