Istanbul

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„Und genau deshalb solltet ihr niemals die Hoffnung aufgeben." Xabi Alonso drehte sich von dem Whiteboard zu seiner Mannschaft um. „Tore können während eines Spiels zu jeder Zeit fallen, und es ist völlig egal, ob es die 1. Minute, die 90. Minute oder die Nachspielzeit ist. Solange ihr den Glauben habt, dass ihr ein Spiel gewinnen könnt, könnt ihr alles erreichen."

Die Spieler von Bayer Leverkusen nickten. Jonathan Tah sah auf. „So wie im Champions League Finale 2005?"

Über Xabis Gesicht huschte ein Lächeln. „Oh ja, genau wie damals in Istanbul." Seine Gedanken wanderten zurück, an diesen historischen Abend 19 Jahre zuvor. Nie würde er dieses Spiel vergessen, als er mit dem FC Liverpool gegen AC Mailand gespielt hatte. Zur Halbzeit hatte Mailand schon 3:0 geführt gehabt, doch in der zweiten Hälfte war Liverpool mit 3 Toren in 6 Minuten zurückgekommen und hatte die Champions League schließlich durch einen Sieg im Elfmeterschießen gewonnen.

„Was war da?"

Die Stimme riss Xabi aus seinen Gedanken. Verwirrt drehte er sich zu Florian Wirtz um, der diese scheinbar harmlose Frage gestellt hatte. „Wie bitte?" fragte er irritiert. „Es geht um das Wunder von Istanbul."

Als Florian Xabis tadelnden Blick auf sich spürte wurde er rot. „Ach ja, natürlich, stimmt ja", stammelte er. „Tut mir leid, ich war damals noch zu jung."

Xabi räusperte sich, sah wieder zum Whiteboard, betrachtete seine Notizen. „Okay, das war im Grunde alles, was ich euch dazu noch sagen wollte. Dann sehen wir uns morgen beim Training."

Alle standen auf und verließen den Konferenzraum. Florian blieb leicht beschämt zurück. Er hatte sich vor Xabi blamiert, und am liebsten wäre er im Erdboden versunken. Aber 2005 war er erst zwei Jahre alt gewesen, an das Champions League-Finale damals konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. Er packte seine Sachen und stand auf, ging Richtung Tür.

„YouTube."

Florian sah auf. Xabi stand neben ihm. „Wie bitte?"

„Geh auf YouTube und sieh es dir an", sagte Xabi. „Es gibt tolle Zusammenfassungen von dem Finale in Istanbul. Lass dich ein bisschen inspirieren."

Florian nickte, erleichtert darüber, dass Xabi nicht sauer auf ihn war. „Werde ich machen, danke", murmelte er. „Bis morgen."

„Bis morgen."

Florian fuhr nach hause, zog sich um und setzte sich mit seinem Tablet auf sein Bett. Er würde alles über dieses Spiel herausfinden. So eine Blamage sollte ihm nicht noch einmal widerfahren. Vor allem nicht vor Xabi. Ihm schien dieses Spiel wirklich sehr wichtig zu sein, also würde er es sich ansehen. Florian fand einen Zusammenschnitt und startete das Video. In der ersten Halbzeit war Mailand klar überlegen. Florian suchte ständig nach Xabi, der im roten Trikot von Liverpool im Mittelfeld spielte. Zufrieden beobachtete er ihn. Er liebte es ihm zuzusehen. Auch im Training, wenn Xabi selbst mitspielte, sah er ihm gerne zu. Allerdings konnte er ihn dabei nicht ständig anstarren. Aber hier, im Video, konnte er sich ganz auf ihn konzentrieren. Er sah noch so jung aus. Jung und gutaussehend. Zwar war er immer noch sehr gutaussehend, aber in diesem Video strahlte er eine Spielfreude aus, die ihm ins Gesicht geschrieben stand. Auch wenn seine Mannschaft hart kämpfen musste. Dann, in der 54. Minute köpfte Steven Gerrard den Ball aus 11 Metern ins Tor. Die Fans von Liverpool waren plötzlich wieder wach, feuerten ihre Mannschaft an, und nur zwei Minuten später schoss Smicer den Ball mit einem Distanzschuss aus 20 Metern ins Tor. Kurz darauf wurde Gerrard im Strafraum gefoult. Xabi trat in der 60. Minute zum Elfmeter an. Florian betrachtete sein jugendliches Gesicht, das die Kamera in Großaufnahme eingefangen hatte, und pausierte das Video. Wohlig aufseufzend sah er ihn sich ganz genau an. Jetzt, so ganz alleine, musste er sich nicht zurückhalten, konnte sich ganz seinen Schwärmereien für seinen Trainer hingeben. Er konnte nicht sagen, wie lange er diese Gefühle für ihn schon hatte. Irgendwie schienen sie schon immer dagewesen zu sein, doch erst nachdem sie nach und nach immer stärker geworden waren, hatte er sie so richtig bemerkt. Und sie machten ihm Angst. Andererseits genoss er es aber auch, liebte es, mit Xabi zusammen zu sein, mit ihm zu trainieren, ihn jeden Tag zu sehen.

Das Geheimnis von Xabi AlonsoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt