Der Verdacht

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Als Xabi an diesem Abend nach hause kam, setzte er sich mit einem Kaffee auf die Couch und betrachtete den Schnee, der leise vor seinem Fenster fiel. Aber irgendwie nahm er ihn gar nicht richtig wahr. Er musste an das Gespräch mit Florian denken, an das Champions League-Finale. Waren wirklich schon 19 Jahre seit damals vergangen? Es kam ihm vor wie gestern. Noch immer spürte er die Atmosphäre im Stadion, die Anfeuerung der Fans, das Gefühl zu versagen, als sie in der Halbzeitpause von ihrem Trainer zusammengestaucht worden waren. Und dann natürlich das Hochgefühl, als erst Stevie und dann Vladimir getroffen hatten, dann das Foul, der Elfmeter – Xabi griff nach seiner Tasse, trank einen Schluck. Als er vor dem Ball stand und darauf wartete, dass der Schiedsrichter pfiff, hatte er sich seltsam ruhig gefühlt. Er wusste genau, wo er hin schießen würde. Dann das Entsetzen, als Dida den Schuss abwehrte, das nur für den Bruchteil einer Sekunde andauerte, sein Nachschuss ins Tor... Xabi schloss die Augen, sah alles wieder genauestens vor sich. Der Rest des Spiels, die Großchance von Mailand kurz vor Ende. Und dann das Elfmeterschießen, als Dudek den entscheidenden Schuss hielt. Diese Erleichterung, diese Freude bei ihnen allen. Xabi hatte lange gebraucht, um sich auch nur ansatzweise daran zu erinnern, was nach dem Abpfiff alles passiert war. Wie sie über den Rasen gelaufen und sich umarmt hatten, das Feiern mit den Fans, die Pokalübergabe. Noch immer sah er Stevie vor sich, der den Pokal als Kapitän überreicht bekommen hatte, all der Jubel, das rote Konfetti, das er noch Tage später in seinen Haaren gefunden hatte. Und dann die Fotos.

Xabi trank einen weiteren Schluck, bevor er die Tasse auf dem Tisch abstellte. Oh ja, die Mannschaftsfotos mit dem Pokal. Er in der Mitte, neben Stevie, der sich zu ihm umgedreht hatte, mit diesen leuchtenden blauen Augen, so glücklich und sorgenfrei wie schon lange nicht mehr. Wie er plötzlich seine Lippen spitzte. Es hatte sich in diesem Moment so richtig angefühlt, als Xabi ihn küsste, so natürlich und liebevoll, und auch wenn ihr Kuss nur kurz gewesen war, so hatte er Xabi in diesem Moment alles bedeutet. Er hatte mehr gewollt, oh ja, aber auch wenn es für ihn in diesem Moment nur ihn und Stevie gegeben hatte, so waren sie doch nicht allein gewesen. Um sie herum war ein ausverkauftes Stadion mit über 80 000 Menschen gewesen, ganz zu schweigen von den Millionen Zuschauern vor den Fernsehern.

Xabi stand auf, griff sich seine Tasse und trank sie aus, dann brachte er sie in die Küche hinüber und stellte sie in die Spülmaschine. Er fühlte wie er einen dicken Kloß im Hals hatte, als er an Stevie dachte. Es war so lange her, viel zu lange. Für einen Moment blieb er regungslos mitten in der Küche stehen, dann drehte er sich um und ging ins Badezimmer hinüber, um sich für die Nacht fertig zu machen.

Als Xabi später im Bett lag, konnte er nicht einschlafen. Noch immer kreisten seine Gedanken um diese eine Nacht, damals in Istanbul. Nicht um das Spiel selbst, nicht um den Gewinn der Champions League, nein, er musste daran denken was danach geschehen war. Sie waren feiern gewesen, die ganze Mannschaft, doch irgendwann mitten in der Nacht waren sie zurück in ihr Hotel gekommen, müde und erschöpft. Das Adrenalin hatte nachgelassen, doch an Schlaf war noch nicht zu denken gewesen. Xabi und Stevie hatten sich gemeinsam in Xabis Zimmer vor den Fernseher gesetzt, hatten sich die Zusammenfassung des Spiels angesehen, und nach und nach waren sie ruhiger geworden, hatten angefangen zu gähnen. Xabi war aufgestanden und ins Badezimmer gegangen, hatte sich die Zähne geputzt und sich umgezogen. Erschöpft hatte er sich danach in sein Bett fallen gelassen und Stevie nachgesehen, der ebenfalls in seinem Badezimmer verschwunden war. Wohlig hatte er sich unter die Decke gekuschelt, bis Stevie wieder herausgekommen war. Für einen Moment hatten sie sich nur angesehen, dann war Stevie zu ihm gekommen. Ganz automatisch hatte Xabi die Decke angehoben und Stevie hatte sich zu ihm gelegt. Zufrieden hatten sie sich aneinander gekuschelt ohne ein Wort zu sagen. Es hatte sich so richtig angefühlt. Schon vor dieser Nacht hatten sie sich sehr nahe gestanden. Schon ab dem ersten Tag, als Xabi als junger Spieler nach Liverpool gekommen war, hatte er eine Verbindung zwischen ihnen beiden gespürt. Stevie hatte sich um ihn gekümmert, ihm geholfen sich zurechtzufinden und vor allem den Liverpooler Akzent zu verstehen. Sie waren beide Mittelfeldspieler, hatten zusammen im Zentrum des Teams gespielt, gemeinsam trainiert und zusammen ihre Freizeit verbracht. Sehr schnell waren sie die besten Freunde geworden. Berührungen und Umarmungen zwischen ihnen waren sehr schnell sehr normal geworden, und bald hatten sich auch ihre Mitspieler daran gewöhnt gehabt, dass man die beiden nur zusammen sah. Sie waren eine Einheit geworden, auf und neben dem Platz.

Das Geheimnis von Xabi AlonsoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt