Kenan's POV
Mit ausgeschaltetem Autopiloten fuhren wir über die Autobahn in Richtung Bursa, aber das wusste Lidya nicht.
Wir hatten nicht noch einmal darüber gesprochen, ob wir wirklich das Grab ihres Vaters besuchen wollten, und ich wollte sie mit nichts überrumpeln. Bursa liegt aber auf unserem Weg nach Bodrum, und uns blieben nur noch ein paar Kilometer, bevor wir durch Bursa fahren würden.
Also unterbrach ich die Stille und fragte sie: „Lidya, wir haben nicht nochmal drüber geredet, aber wir fahren gleich durch Bursa..."
„Stimmt. Ich glaube, ich wollte es verdrängen, aber ich muss mich damit konfrontieren."
„Das entscheidest nur du. Wir müssten aber so oder so einen kurzen Boxenstopp machen. Wenn du magst, können wir sein Grab besuchen."„Er wurde mit meinen Großeltern in seinem Heimatdorf begraben. Es wäre toll, wenn wir vorbeischauen könnten."
„Na klar, Nur'um." Ich schenkte ihr einen Kuss auf ihren Handrücken, was ihr ein kleines Lächeln entlockte.Wir beide versanken jedoch in Gedanken. Sie dachte wahrscheinlich über ihren Vater nach, während ich die ganze Zeit nur an sie denken konnte. Ich entzog meine Hand aus ihrer, um das Lenkrad wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Würde eine Begegnung mit dem Grab ihres Vaters sie negativ beeinflussen? Wäre es schlauer, das Grab nicht zu besuchen, um ihretwillen? Einmischen kann ich mich nicht. Sie ist erfahren genug, um zu wissen, was ihr schaden könnte. Sie hat schließlich mehr erlebt, als ich mir vorstellen kann.
Vor ihr hatte ich mich nie damit auseinandergesetzt, welches Leben andere Menschen führen. Ich war mit meiner eigenen Welt beschäftigt. Schule, Fußball, Familie.
Ich hatte stets ein stabiles Umfeld, da wirken Probleme wie Tod unerreichbar. Niemand in meiner unmittelbaren Nähe ist verstorben. Da fällt es schon schwerer, Empathie für Lidyas Erfahrungen aufzubringen.
Aber ich gab mein Bestes.
Ich wollte sie verstehen.
Unkonzentriert begann ich, mit dem Haargummi um mein Handgelenk zu spielen und es zu zupfen, damit es noch härter gegen meine Haut schnippte. Es war das Haargummi, das ich nach unserem ersten Eifersuchtsstreit bekommen hatte.
Ich musste lächeln. Weder Lidya noch ich wussten damals, wie man eine stabile Beziehung führt. Wir wissen es immer noch nicht, aber unsere gemeinsamen Erfahrungen bringen uns stetig weiter, und das machte mich glücklich.
Ich weiß gar nicht mehr, was mich glücklich machte, bevor ich mit ihr zusammen war. Klar, Fußball, aber erst jetzt fühlte ich mich in meinem Glück komplett. Ich führte meine Hand wieder zu ihrer und begann, ihren Handrücken mit meinem Daumen zu streicheln, aber sie zeigte kaum eine Reaktion.
Ich will mir gar nicht ausmalen, welche Erinnerungen sie gerade verfolgen.
In Stille, mit leiser Musik, fuhren wir in die Stadt ein. Nach einem kurzen Halt bei einem Restaurant machten wir uns weiter auf den Weg, aber ich konnte mein Essen kaum genießen, weil ich dabei beobachten musste, wie Lidya nachdenklich in ihrem Essen herumstocherte.
Es war das Gefühl der Machtlosigkeit, das mich andauernd verfolgte. Mein Retter-Komplex machte mich mental fertig, denn so sehr ich es auch wollte, es gab nichts, was ich tun konnte, um Lidya von ihrem Leid zu befreien – außer einfach an ihrer Seite zu sein.
Fragen halfen auch nicht, denn es kam immer dieselbe Antwort:
„Es gibt nichts, was du machen kannst, Kenan'cim. Dass du an meiner Seite bist, ist mehr als genug."
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Bild von Dir - [Kenan Yildiz]
FanficLidya-Nur ist ein junges, ambitioniertes Mädchen mit Träumen. Die Fotografie ist wie ihre Luft zum Atmen und als sie schon mit 19 Jahren ihren Traumjob bekam, wurde ihr Leben von einem jungen Fußballer auf den Kopf gestellt. Entscheidet sie sich für...