Kapitel 11

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Vor mir lagen zusammengeknüllte, vollgeheulte Taschentücher auf meiner Bettdecke, während auf dem Fernseher das Spiel zwischen der Türkei und Portugal lief. Es wäre eine Untertreibung zu sagen, dass es scheiße läuft.

Man sieht keinen Elan, keine Motivation bei den Spielern. Die Besten der Mannschaft stehen nicht einmal auf dem Feld und ich weiß wirklich nicht, was sich Montella dabei gedacht hat. Es schmerzte nur, die ganze Mannschaft so demotiviert und hoffnungslos auf dem Platz zu sehen, obwohl ich doch weiß, mit wie viel Freude sie eigentlich spielen.

Ich denke, die Geschehnisse von gestern haben die Mannschaft demoralisiert. Arda und Kenan aus der Startelf zu nehmen, war schon eine große Fehlentscheidung, aber als ich sah, dass außer Hakan kaum ein anderer aus der Stammelf drin ist, war mir klar, dass Montella einen anderen Plan hat, den er wahrscheinlich unter Verschluss hält.

In den letzten zehn Minuten wurden dann irgendwann Arda und Kenan eingewechselt, aber sie sahen unmotiviert aus. Jeder wollte einfach, dass dieses chaotische Spiel zu Ende geht.

Kenan auf dem riesigen Bildschirm vor meiner Nase zu sehen, kitzelte wieder ein paar Tränen aus mir. Seit gestern habe ich nichts getan, außer in meinem Bett zu gammeln und zu weinen. Ich weiß nicht, wie es menschlich überhaupt möglich ist, so viele Tränen zu verlieren. Ich muss einen neuen Rekord aufgestellt haben.

Schließlich ging das Fußballspiel zu Ende und meines Wissens nach machten sie sich direkt wieder auf den Weg zurück nach Barsinghausen. Ich schaltete den Fernseher aus und fand mich in der Dunkelheit meines Zimmers wieder.

Natürlich dachte ich wieder an Kenan und wie mein Kopfkissen seinen Körpergeruch aufgesogen hat. Ich dachte an die Worte, die er während unseres letzten Kusses gesagt hatte.

„Du bist unvergesslich, Nur'um."

Ich weiß, dass unsere Situation mindestens genauso eine schlimme Qual für ihn ist wie für mich. Ich bereute, dass ich mich seinem Wunsch gebeugt hatte.

Wir hätten unsere Beziehung einfach geheimer halten können, sodass wirklich niemand von uns wusste, aber wir haben uns nicht dafür entschieden.

Er hat sich nicht dafür entschieden.

Er wollte die Distanz.

Melancholisch griff ich zu meiner Kamera auf dem Nachttisch, um mich vielleicht damit abzulenken, aber vergebens. Die meisten Fotos waren von Kenan beim Fußballspielen.

Erst da realisierte ich, dass er wirklich meine Muse ist.

Irgendwann stieß ich auf ältere Fotos und bei einem zogen sich meine Oberschenkel zusammen.

Das Bild war das, welches ich von ihm gemacht hatte, als er in mein Zimmer kam, um sich massieren zu lassen. Dort hing er den ganzen restlichen Abend an meinem Hals und ich konnte mich nicht davon abhalten, einen wütenden Schrei rauszulassen.

Ich hasste ihn dafür, dass er mich so ruiniert hat.

Ich ließ alles Revue passieren, was ich bisher mit ihm erlebt hatte.

Als er bewusst seinen Arm um mich im Zug legte und dort meine Schulter streichelte, obwohl wir uns kaum kannten. Wie er mich daraufhin tagelang ignorierte, nur um in einer Nacht alles platzen zu lassen. Er schämte sich nie davor, mir deutlich zu machen, wie wichtig ich ihm bin. Die größte Geste, die er mir bisher erwiesen hatte, war unser erstes Date.

Wie er alles bis ins kleinste Detail plante. Das Motorboot von Dirk und dieser wunderschöne See. So einen Ort findet man nur in seinen Träumen wieder und Kenan wollte diesen Ort mit mir teilen.

Am schlimmsten an der ganzen Sache sind seine Versprechen.

Er hat mir versprochen, das aufzuholen, was mir mein Vater seit seinem Tod nicht mehr geben konnte.

Bild von Dir - [Kenan Yildiz]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt