Kapitel 26

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„Scheiße!"

An diesem Tag lief alles schief. Zuerst bekam ich einen schmerzhaften Pickel an meiner Schläfe, dann verschmierte ich mir aus Versehen Mascara übers ganze Gesicht, und nun lag meine 50€-Foundation zerbrochen auf dem Boden.

Als wäre das nicht genug gewesen, kämpfte ich ohnehin schon mit der Trauer dieses Tages.

Heute vor fünf Jahren war mein Vater gestorben, und Kenan spielte immer noch die geheimnisvolle Dramaqueen.

Völlig überreizt begannen meine Tränen wieder zu fließen.

Ich wollte mich schön fühlen. Wenn mein Inneres schon verrottet war, sollte man es mir wenigstens äußerlich nicht ansehen.

Doch der Plan war gründlich schiefgegangen, denn die Haut um meine Augen herum war nun mit Mascarakrümeln übersät.

Meine Augen brannten, und meine Nase lief unaufhörlich.

Ich verfluchte diesen Tag bis ans Ende meines Lebens.

Schließlich gab ich es auf, meine Schminke retten zu wollen, griff nach einem Abschminktuch und wischte alles von meinem Gesicht.

Kenan hätte mir gesagt, dass ich ohne Schminke sowieso schöner sei, aber er war nicht da.

Er war verdammt nochmal nicht da.

Und nichts hätte ich mir in diesem Moment mehr gewünscht als den Kenan, der mich jeden Morgen mit kleinen Küssen auf meinem Haaransatz, meiner Wange oder meinem Rücken geweckt hatte.

Blind vor Wut griff ich nach dem kleinen Schminkspiegel vor mir und warf ihn mit voller Wucht auf den Boden.

Ich trug so viel Frust in mir, dass ich plötzlich jede einzelne Therapiestunde vergaß, die ich über mich hatte ergehen lassen.

Ich wusste nicht weiter.

Noch nie hatte ich romantische Frustration so intensiv erlebt, und ich hasste es abgrundtief.

Frustriert und gereizt rieb ich mir übers ganze Gesicht, bevor mein Blick schließlich auf die tausenden Splitter am Boden fiel.

„Alles gut? Ich habe ein – Oh mein Gott, Lidya!", rief meine besorgte Mutter, als sie durch den Türrahmen trat und die Scherben auf dem Boden sah.

Besorgt und überfordert griff sie direkt in die Trümmer, bereute es jedoch schnell, als sie merkte, dass sie sich an einer der Scherben in den Finger geschnitten hatte.

„Scheiße!", rief sie das gleiche Wort, das mir gerade eben selbst über die Lippen gekommen war.

Wie die Mutter, so die Tochter, oder so ähnlich.

Ich brachte sie schnell ins Badezimmer, wo sie sich allein verarztete, während ich vorsichtig die Scherben aufhob und in den Mülleimer warf.

Für einen Moment übernahmen meine aufdringlichen Gedanken die Kontrolle, und ich spielte mit dem Gedanken, eine Scherbe in meiner Hand zu zerdrücken, nur um etwas anderes zu spüren als die Wut, die Trauer und die Frustration, die mich zuvor übermannt hatten.

Doch mit einem Blinzeln sah ich der Realität wieder ins Auge.

So etwas hatte ich noch nie gemacht, und ich hatte mir geschworen, damit nie anzufangen.

Der Gedanke, dass sich ein Mensch absichtlich verletzte, machte mir Angst. Das Leben war zu kostbar, um dem eigenen Körper unnötigen Schaden zuzufügen.

Es verbesserte nichts. Das eigentliche Problem verschwand dadurch nicht.

Umso trauriger machte es mich, dass Kenan offenbar keinen anderen Ausweg fand, als seinen eigenen Schmerz zu suchen.

Bild von Dir - [Kenan Yildiz]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt