Kapitel 19

1.6K 36 67
                                    

Nachdem ich Kenan ebenfalls gewaschen hatte, warf ich ihm eine Jogginghose zu, die er sich anzog, bevor er sich mit gespreizten Armen in mein gemachtes Bett legte.

Ich zog nur ein paar Unterhosen und ein übergroßes Shirt an und legte mich dann in seine Arme, wobei ich meine Hand auf seine Brust legte und begann, kleine Kreise zu malen.

„Wie war eigentlich dein Gespräch beim Therapeuten? Du musst nicht erzählen, worüber ihr geredet habt, wenn du nicht möchtest."

„Es lief gut. Er hat mir vieles erklärt, und ich kann jetzt ein wenig besser verstehen, was mit mir los war. Er hat mir auch ein paar Bewältigungstipps für den Anfang gegeben. Ich glaube aber, dass ich nochmal zu ihm gehen werde." Er sprach dabei gegen meinen Haaransatz, auf den er ab und zu Küsse verteilte.

„Das freut mich sehr zu hören, canım. Geh zu ihm, wenn es dir gut tut. Mir hat es auch enorm geholfen."

„Kannst du mir ein bisschen über deine Erfahrungen erzählen? Du hattest ja erwähnt, dass du mit Angstattacken zu kämpfen hast."

Man konnte aus seiner Stimme genau das ehrliche Interesse heraushören. Sein Interesse weckte eine Seite in mir, die mir noch unbekannt war.

Es war die Seite, mich mit einem wohltuenden, ungezwungenen Gefühl einer Person öffnen zu wollen. Sonst war ich immer defensiv, wenn es um meine mentale Gesundheit ging, aber ich wusste, dass er es nicht missbrauchen würde, wenn ich mich ihm öffnete.

„Dass der Tod meines Vaters so unerwartet kam, brachte mich dazu, hyperaufmerksam gegenüber meiner Umgebung und meinen Mitmenschen zu werden. Jede Sekunde lebte ich anfangs mit der Sorge, dass jeder um mich herum in diesem Moment sterben könnte. Der Tod war aber eher zweitrangig. Es bildete sich mehr die Angst, plötzlich im Stich gelassen zu werden. So begann ich also, selbst andere im Stich zu lassen."

„Als Abwehrmechanismus?"

„Genau. Lieber andere verlassen, als verlassen zu werden. Nicht nur meine Mutter isolierte sich von mir wegen ihrer schweren Depressionen, sondern ich isolierte mich auch von ihr. Diese Einsamkeit riss mich in ein tiefes Loch."

„Das tut mir so leid, mein Schatz." Seine Finger strichen durch meine Haare, als er mir wieder einen Kuss auf meinen Haaransatz gab.

„Alles gut, ich habe meinen Frieden damit gefunden, dass das mein Schicksal war. Alles passiert aus einem Grund. Hätte ich nicht diese Probleme gehabt, hätte ich mich nicht so sehr in die Fotografie gestürzt und dich nicht kennengelernt."

Seine freie Hand hob meinen Kopf mit seinen Knöcheln an, als er mir einen samtweichen Kuss schenkte. Er küsste mich so, als ob ich, wenn er mehr Druck ausüben würde, zerbrechen könnte.

„Was hat der Tod deines Vaters mit der Fotografie zu tun? Du hast doch schon damit angefangen, bevor dein Vater verstarb, oder nicht?"

Mein Bauch begann zu kribbeln, als er all die Details in seine Frage packte.

„Es ist so süß, wie du dir alles gemerkt hast, Kenan. Du hast recht, Fotografie war schon mein Hobby vor dem Tod meines Vaters. Er hatte mir damals meine erste Kamera gekauft, weil ich seine immer geklaut hatte. Er war auch Fotograf, und ich wollte unbedingt so werden wie er. Ich sag ja, er war in allem mein Vorbild."

Sein Daumen streichelte meine Wange, während er mir aufmerksam weiter zuhörte.

„Dadurch, dass ich in meinem Bremer Kaff auch keine Freunde hatte, war ich enorm einsam. Ich habe meinen Frieden mit der Einsamkeit geschlossen, aber die erste Zeit war so schlimm für mich, dass ich alles, wirklich alles, aus meinem 15. Lebensjahr vergessen habe. Ich kann dir nicht sagen, wie die neunte Klasse war, weil ich mich an keinen einzigen Moment erinnern kann. Mein Therapeut sagt, dass das mein Weg war, mit meinem Trauma umzugehen."

Bild von Dir - [Kenan Yildiz]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt