Der Kampf um Leben und Tod

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Meine geliebte Familie,

Vielleicht bin ich ein Feigling, weil ich mich nicht traue, euch das ins Gesicht zusagen. Vielleicht bin ich ein Feigling, weil ich es euch nie erzählen würde,außer durch diesen Brief und ich ihn euch vielleicht gar nicht geben werde. Vielleicht bin ich ein Feigling, weil ich Angst vor eurer Reaktion habe. Aber ich bin der größte Feigling, weil ich euch nie der Vater sein konnte, der ich gerne gewesen wäre. Doch nun werde ich euch sagen was ich euch schon lange sagen wollte und es auch Zeit ist euch zu sagen. Ich bitte euch, meine Worte gemeinsam zu Ende zu lesen und mich danach nicht zu hassen. Also setzt euch alle hin und lest. Bitte. Sind alle da?"

Ich hörte kurz auf zu lesen. Tobi fehlte. Er war bestimmt in seinem Zimmer. Ich wollte gerade aufstehen, um hochzugehen und ihn zu holen, als sich die Haustür öffnete und Tobi herein kam. Ich war total erleichtert:"Tobi komm mal bitte". Ich hörte wieder Schritte und dann betrat Tobi das Zimmer und setzte sich aufs Sofa. Ich klärte ihn auf und laß ihm den ersten Teil vom Brief vor. Dann las ich weiter:"Und vielleicht noch andere Kinder und ein anderer Mann? Wer weiß schon, was in der Zeit passiert ist, bis ihr diesen Brief bekommt. Die Zeit vergeht so schnell und man kann sie und was in ihr passiert nicht aufhalten. Als Maddy und Tobi noch klein waren, habe ich oft versucht, die Zeit anzuhalten. Doch ich bin kläglich gescheitert. Doch darum soll es heute nicht gehen. Wir waren schon einige Zeit zusammen. Du und ich, eure Mutter und ich. Hatten schon viel erlebt. Höhen und Tiefen. Da wurde ich krank. Sehr krank. Um ehrlich zu sein bekam ich Leukämie. Blutkrebs. Unheilbar krank, zum Tode verdammt. Ich beschloss schon als der Arzt es mir sagte euch nichts davon zu erzählen. Diese ständigen Sorgen hätte ich nicht ertragen. Ich hätte nicht ertragen, wenn ihr euer Leben nicht hättet so weiterführen können wie ihr es wolltet, nur wegen mir. Ich wollte immer das beste für meine Familie und das wusste keiner besser als ihr. Ich ging heimlich zum Arzt, als ihr dachtet, ich wäre bei der Arbeit. Unterzog mich Therapien und stundenlanger Chemo, um länger bei euch bleiben zu können. Ich hätte alles getan, um bei euch bleiben zu können. Euch aufwachsen zu sehen und euch meine Liebe spüren zu lassen. So wie mein Vater sie mir nicht geben konnte. Hätte es euch drei nicht gegeben, hätte ich schon lang aufgeben. Und ich verspreche euch, wenn es jemals dazu kommt, dass ihr in Gefahr, sogar in Lebensgefahr geratet, werde ich alles dafür tun, um euch zu retten. Im schlimmsten Fall sogar mein eigenes Leben opfern.

Ich hatte nie vor euch zu verlassen. Aber wir können nicht entscheiden, wann wir gehen wollen. Doch anstelle von Menschen, die man liebt zu sterben, scheint mir ein ganz guter Weg zu sein. Ich weiß nicht was mir noch zu sagen blieb. Ich will einfach nur, dass ihr wisst, dass ich euch Liebe und immer bei euch bin. Ich möchte auch, dass ihr immer euer bestes gebt, so wie ich es von euch gewohnt bin.

Euer Vater/Ehemann

Am Ende des Briefes war ein nasser Fleck. Mein Vater hatte geweint. Lange Zeit war es still. Uns allen drei kullerte eine Träne runter und es dauerte nicht lange, bis wir uns weinend in den Armen lagen. Doch plötzlich löste sich unsere Mum von uns und sah uns an:" ich muss euch auch etwas sagen..." Wir sahen meine Mutter erstaunt, aber auch erwartend an. Sie atmete einmal ein und wieder aus. Dann fing sie an zu erzählen:" damals bei dem Unfall...

Flashback(Andrea P.O.V)

Ich verlor die Kontrolle über das Auto und dann passierte es. Ich bekam nicht viel mit , weil mir sofort schwarz vor Augen wurde...

Ich versuchte meine Augen zu öffnen und erstaunlicherweise schaffte ich es. Ich schaute mich um und sah meine Kinder mit geschlossenen Augen auf der Rückbank sitzen. Ich schaute neben mich und sah meinen Mann wie er gerade mit einem Polizisten redete. Er schrie fast:"Lassen Sie mich los. Retten Sie meine Frau und meine Kinder." Doch der Polizist schien nicht auf ihn zu hören:"sie müssen sofort da raus." Mein Mann wehrte sich weiterhin. Er wollte nicht gehen. Er wollte dieses Auto nicht verlassen, bevor seine Familie nicht in Sicherheit war. Als er sah, dass ich die Augen offen hatte, nahm er meine Hand und drückte sie:" alles wird gut mein Schatz. Sie werden dir helfen. Ich werde nicht zulassen, dass einer von euch sterben muss. Ich liebe dich." Dann bekam er keine Luft mehr und schloss seine Augen zum letzten Mal...

Flashback ende

Jedes Leben baut auf ein Fundament. Ein Fundament bestehend aus Gefühlen,Freude,Trauer und Glaube,bestehend aus Menschen, Freunden, Familie. Von außen scheint es voller Freude, wie ein Garten am Frühlingsmorgen, wenn die Blumen erwachen. Doch geht man noch näher ran und betritt das schöne Haus gebaut auf dem Fundament, entdeckt man Räume voller Trauer und Tränen. Regale Gefüllt mit Büchern voller Enttäuschungen, Schreibtische voll mit nie abgeschickten Liebesbriefen. Doch im tiefsten Kern des Fundament ist und bleibt der Glaube. Der Glaube an das gute. Der Glaube alles schaffen zu können und das richtige zu tun. Der Glaube alles zu wissen und jedem helfen zu können. Der Glaube nie aufgeben zu wollen. Jeden Tag verlässt man sein Haus, lässt die traurigen Zimmer zurück und zeigt sein stärkstes Lächeln, und wenn man dann zurückkehrt, findet man sein Haus so wie man es verlassen hat wieder vor. Stabil und standhaft gebaut. Der Glaube lässt alles so sein oder zumindest so scheinen wie es sein soll. Doch was ist, wenn dieses Fundament plötzlich zu zerbrechen droht, als hätte man auf einer Eisplatte gebaut? Was passiert, wenn es sich anfühlt als würde alles woran du geglaubt hast einfach weggespült werden wie Sand am Meer? Was wird geschehen, wenn auch all die Gefühle weg sind und du nichts mehr fühlen kannst. So ging es mir gerade. Ich hatte das Gefühl, dass mein ganzes Leben, alles woran ich geglaubt hatte, alles worauf ich gebaut hatte, verschwand oder sich zumindest veränderte. Doch dies war das einzige Gefühl, denn eigentlich fühlte ich nichts. Ich wusste nicht ob ich traurig sein sollte, weil mein Vater krank gewesen war. Ich wusste nicht, ob ich enttäuscht sein sollte, weil er es uns nicht erzählt hatte, uns nicht daran Teil haben lassen wollte. Ich wusste nicht, ob ich es bedauern sollte, dass er diesen Teil, diesen schwierigen Abschnitt seines Lebens, nicht mit uns teilen wollte. Ich wusste nicht, ob ich wütend sein sollte, weil mein Vater uns angelogen hatte. Er hatte immer gesagt er ginge zur Arbeit, obwohl er zum Arzt ging. Ich wusste nicht, ob ich vielleicht einfach stolz empfinden sollte, weil er all diese Therapien auf sich genommen hatte und er uns liebte und weil er mein Vater war. Ich wusste nicht, ob ich mich glücklich fühlen sollte, weil er uns gerettet hatte. Sollte ich dankbar sein, weil er sein Leben für uns aufgab? Ich wusste es nicht und ich fühlte es auch nicht. Ich fühlte nicht, was ich fühlen sollte. Ich spürte wie mein Gesicht langsam pitschnass wurde und wie jemand meine Tränen wegwischte und mich in den Arm nahm. Ich war Tobi so dankbar, dass er jetzt für mich da war, obwohl ich mir sicher war, dass er das später wieder für selbstverständlich ansah. Immer wieder wollte ich meinen Mund öffnen und etwas sagen. Doch ich konnte weder fühlen, noch reden, noch mich richtig bewegen. Mum hatte das Zimmer verlassen, da sie genau wusste, dass wir jetzt alleine sein mussten, unter wir Augen darüber reden mussten. Von Bruder zu Schwester. Von Kind zu Kind unseres Vaters. Tobi sah mich an und endlich wurde diese totenstille, in der man jede stecknadel gehört hätte , unterbrochen:" Lass und zu unserem Vater ans Grab gehen. Und ich schaffte es tatsächlich zu nicken. Dann stand ich auf, zog mir Jacke und Schuhe an und zusammen gingen wir auf dem Friedhof. An das Grab meines Vaters um vielleicht endlich mit dieser Sache abschließen zu können...

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Das Mädchen ohne LachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt