30. Tag Zwei

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Wir hatten 7:16 Uhr, als ich blinzelnd aufstand und mich gähnend umschaute.
Ich hatte zwar geschlafen, doch müde war ich trotzdem. Ich war immer müde, dachte ich und seufzte.

"Hey, Allison! Willst du was essen?", hörte ich Nick und drehte mich um.
Da saß er mit Will auf der Wiese hinter unseren Schlafplätzen und biss in einen Apfel.
Wollte ich etwas essen?
Nein, dachte ich, obwohl mein Magen protestierte.

"Danke, ich verzichte", erwiderte ich und ging in Richtung Wald.
Ich brauchte einfach noch einen Moment für mich.
Also lief ich über die Wiese und verschwand hinter der Hecke.
Nachdem ich ein paar weitere Schritte gegangen war und sicher gegangen war, dass mir niemand gefolgt war, tat ich etwas, was mir wahnsinnig unangenehm war - ich entleerte meine Blase im einem verdammten Wald.
Schlimmer kann's nicht werden, dachte ich und lehnte mich danach gegen einen Baum und seufzte.

"Schlimmer kann's echt nicht werden", murmelte ich zu mir selbst und schloss die Augen.
Ein Rascheln riss mich aus den Gedanken.

"Liz? Bist du hier irgendwo?"

Wills Gesicht tauchte hinter einem Baum auf und unsere Blicke trafen sich.

"Kommst du? Wir wollen weiter", sagte er und ich spürte ein Stechen in meinem Herzen.
Er sagte es so, als ob nichts gewesen wäre.
Als ob es ihm egal wäre.

Ohne ein Wort zu sagen, folgte ich ihm zurück zu den Fahrrädern und räumte mein Zeug zusammen.
Lola und Bella waren bereits fertig und stiegen schon auf ihre Räder.
Hastig schnallte ich meine Tasche auf mein Rad und schwang mich auf den Sattel.

*

Auch diese 2. "Etappe" verlief fast nur geradeaus und auch auf einem Fahrradweg, sodass wir kein Problem mit dem Straßenverkehr hatten.

Ich bildete das Schlusslicht und hing auch etwas hinterher.
Nick und Will fuhren ganz vorne, Lola und Bella danach.

Die Zeit verging schnell und meine Füße spürte ich schon gar nicht mehr. Es kam mir so vor, als ob sie von selbst in die Pedale traten.
Ich war einfach viel zu erschöpft, um darüber nachzudenken, wie erschöpft ich war.

*

Wir machten nach zweieinhalb Stunden eine Pause in der Nähe einer Kleinstadt und entschieden uns, dort was Essen zu gehen.
Geld dafür hatten wir genug.
Also versteckten wir unsere Fahrräder hinter Büschen und bedeckten sie mit Laub, sodass man sie echt nicht mehr sah.
Schlösser hatten wir ja keine - Nick hatte sie ja aufgebrochen.

Nachdem wir sicher gegangen waren, dass niemand die Fahrräder von der Straße aus sehen konnte, liefen wir in Richtung Innenstadt.
Ich lief wieder ganz hinten, da ich keine große Lust hatte die ganze Zeit bei Will zu sein, der ganz vorne mit Nick unterwegs war.

Gerade schaute ich auf und fixierte seinen dunkelblauen Wuschelkopf, da drehte er sich um.
Wie in Zeitlupe suchte sein Blick meinen und seine dunklen Augen trafen auf meine.
Verdammt, dachte ich und am liebsten hätte ich geheult. Mir war danach zu weinen.
Doch der viel größere Drang in mir, war der Drang, den ich immer zu unterdrücken versuchte.

Will hatte sich schon wieder umgedreht und ich schaute wieder seinen Hinterkopf an.
Seufzend beschleunigte ich meinen Gang, um aufzuholen.
Als ich bei Bella angekommen war, traf mich wieder ihr besorgter Blick.

"Ally? Was ist denn los? Du kannst mit mir reden. Ich bin's Bella!", sagte sie auffordernd, doch ich hatte keine Lust, zu reden.
Ich hatte keine Lust
Ich hatte keine Lust auf irgendwas, dachte ich und mir war direkt wieder nach wegrennen und weinen zumute.
Ich zog mich selbst immer wieder ins dunkle Loch und konnte daran nichts ändern, es war einfach nur verdammt scheiße, dachte ich.

Die Stimme in meinem Kopf redete auf mich ein und ich musste seufzen.

"Es geht mir ganz okay. Wirklich. Es ist alles okay."

Bella seufzte. "Ally. Du bist mir sehr wichtig. Ich möchte wissen, was mit dir ist. Ich möchte dir helfen."

"Danke, Bella, aber ich brauche keine Hilfe", erwiderte ich und kam mir kurz darauf ziemlich blöd vor. Schließlich brauchte ich Hilfe, ich war in einer Klinik gewesen.
"Du bist mir auch sehr wichtig, hörst du? Und wenn was ist, kannst du immer mit mir reden, ja?", fügte ich hinzu.
Wenn Bella etwas zustoßen würde, wäre ich am Ende. Wirklich am Ende. Am Ende des Endes, dachte ich.

"Ich hab dich lieb, Ally. Du bist eine meiner besten Freundinnen, weißt du?", sagte sie. "Und ich hab nur zwei beste Freundinnen. Dich und Lola. Und das reicht mir vollkommen. Ich brauch nur euch und Nick und Will. Ihr seid einfach meine besten Freunde."

Sie brachte mich zum Lächeln, wenn ich nicht lächeln wollte. "Ich hab dich auch lieb, Bella."

*

Nick meinte, einen Ort gefunden zu haben und wir gingen quer über die Straße auf ein kleines Café zu.

Ein paar normale Tische und Stühle und ein paar Sessel waren im Raum verteilt.
Ein junger Mann stand hinter der Theke und lächelte uns freundlich zu.

Wir bestellten uns was zu Essen und setzten uns an einen großen Tisch.
Das Café war sonst leer - wir waren komplett alleine, was mich wunderte.

Es war ganz still. Auch als wir unser Essen bekamen, blieb es still.
Ich biss kurz in mein Crossaint, lies es dann aber doch liegen.
Gegenüber von mir saß Will, dessen Blick ich auf mir spürte.
Irgendwann beschloss ich, all meinen Mut zusammenzukratzen und zu ihm hochzuschauen.

Und wie ich bereits vermutet hatte, schaute er mich bereits an.

Nur kurz sahen wir uns in die Augen und mein Herz tat wieder weh. Dann huschte sein Blick wieder weg und er starrte irgendwo ins Leere.
Unsere ständigen Blickkontakte machten mich nur noch trauriger und verwirrter.

"Mann, was ist denn mit euch allen los?", fragte Nick auf einmal und seine Stimme klang irgendwie enttäuscht.

Müde senkte ich meinen Blick und Lola, die neben mir saß, fing an zu lachen.
Etwas verwirrt schaute ich zu ihr und sah, wie ihre roten Haare auf und ab wippten, weil sie so stark lachte.

"Was ist so lustig?", fragte Nick, der die Stirn in Falten gelegt hatte.

"Ich weiß nicht. Sag du's mir", lachte Lola.
"Es hat einfach was gefehlt. Das Lachen hat gefehlt. Also hab ich mir gedacht, dass ich einfach mal anfange zu lachen, weil irgendwer muss es doch tun."
Lola hörte auf zu lachen.

Nach einer Weile, in der es immer noch still war, seufzte sie.

"Ich will nicht traurig sein.
Ich will keine Narben mehr.
Ich will nicht mehr weinen.
Ich will lachen.
Ich will leben, verdammt."

Und diesmal packten mich ihre Worte und rissen mich in eine komplett andere Welt.
Wollte ich leben?
Oder wollte ich sterben?
Ich wusste es nicht mehr. Mein Gefühl war komplett verschwunden.
Jeglicher Schmerz war wie weggeblasen und ich war einfach nur noch eine leere Hülle.

Doch als ich wieder zu Will sah, spürte ich etwas.
Etwas seltsames.
Es schmerzte und doch war es schön.

Das einzige, was ich noch fühlte, waren die Gefühle für ihn und der Schmerz, die sie mir brachten.

Ich liebte ihn mit jedem Teil meines gebrochenen Herzens und das fühlte ich.

Freaks [wird überarbeitet]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt