36. Tag Fünf

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Am nächsten Morgen war ich genauso früh wach, wie am vorherigen Morgen.
Dank dem Hahn, der seinen Job ziemlich gut ausführte.

Müde stand ich auf, schnappte mir andere Kleidung zum Wechseln und lief rüber zum Haus, wo Alex bereits davor stand und telefonierte.
Doch mit der Latzhose und dem Grashalm im Mund wirkte er trotzdem nicht gerade wie einer der moderneren Bürger.

"Einen Moment", sagte er in den Hörer und hielt ihn dann zu.
"Hey, Allison. Wie geht's, wie steht's?"

Ich musste kurz auflachen. "Hey, Alex. Mir geht's ganz okay, und dir?"

Er zuckte mit den Schultern. "Mein Vater ist am Telefon."

"Ist es okay, wenn ich duschen gehe?", fragte ich und er nickte.

"Na, klar. Ich muss jetzt weiter telefonieren, sonst bringt mich mein Vater noch um."
Er grinste und ich verschwand im Haus.

Das Wasser prasselte auf meine blasse Haut, hinab an meinen Armen, die vernarbt waren und zerkratzt aussahen.
Ich schluckte. Das letzte Mal, das ich das scharfe, silberne Ding auf meiner Haut gespürt hatte, war schon etwas zu lange her für mich.

Doch ich schloss einfach die Augen, lehnte mich gegen die kalte Wand und ließ das Wasser an meinem Körper entlanglaufen. Trotzdem spürte ich diesen Verlangen in mir, diese Sucht.

Nach einer Weile stieg ich raus aus der Dusche und zog mich an.
Dann schaute ich in den beschlagenen Spiegel.
Einmal wischte ich drüber, um mich zu erkennen.

Meine Haare hingen tropfend in Strähnen von meinem Kopf hinunter und mein Gesicht wirkte eingefallen und irgendwie müde. Also so wie immer, dachte ich.
Seufzend versuchte ich meine Haare mit dem Handtuch etwas trocken zu rubbeln und ging dann wieder raus zu Alex, den ich schon von weitem reden hörte.

Als ich dann nach draußen an die frische Luft trat, blickten mir Alex und Will entgegen.

"Guten Morgen", sagte Will und sein Blick haftete an mir wie eine Klette.
Warum schaute er mich so an?
Jede Bewegung, die ich machte, verfolgte er mit seinen Augen und ich spürte seinen Blick in meinem Rücken, als ich zur Scheune rüber ging, um die anderen zu wecken.

*

Wir frühstückten und Alex meinte, er müsse raus aufs Feld fahren und fragte, ob irgendwer mitkommen wolle.

Letztendlich saßen wir alle auf der Ladefläche seinen Trucks.
Alex gab Gas und wir flogen erst mal komplett hin und her.
Irgendwann hatten wir dann alle eine Position gefunden, wo man sich gut festhalten konnte und Alex fuhr auf einem holprigen Feldweg weg von der Scheune und dem Haus.

Der Wind zerzauste meine immer noch etwas feuchten Haare und ich war froh, einen dicken Pulli angezogen zu haben, denn es war relativ kühl.
Will saß mir gegenüber und sein Blick durchbohrte mich.
Es war mir unangenehm, dass er mich so anstarrte, aber ich traute mich nicht, ihn zu fragen, warum er das tat.
Die Situation zwischen uns war eh schon komisch genug dank mir.

Mein Blick glitt über die grünen Weiden und Felder und über die Kühe und Schafe, die grasten.
Plötzlich hielt Alex an und hätte ich mich nicht festgehalten, wäre ich voll gegen die Trennwand zwischen Alex und uns geknallt.

Wir hüpften von der Ladefläche runter und standen vor einem riesigen Feld.
"Freunde, das ist das Feld, wo wir Bäume pflanzen oder schon gepflanzt haben. Dahinten sind noch zwei Maisfelder von meiner Familie. Da könnt ihr ruhig rein, aber hier bei den Setzlingen lieber nicht. Ich will meinem Vater nicht erklären müssen, warum es dieses Jahr weniger Ernte gibt. Er weiß nämlich nicht mal, dass ihr hier seid, also naja", lachte Alex.

"Ach ja! Verirrt euch nicht! Die Felder sind größer als ihr denkt!", rief er uns noch hinterher, während wir den schmalen Pfad zum Maisfeld hoch liefen.
Wir gingen nur dort hin, weil uns eben langweilig war und Alex konnten wir schlecht helfen, weil wir eh nur die Setzlinge zertrampeln würden.
Und so rannten wir einfach zwischen den Maiskolben hin und her und es war wirklich fast wie in einem Labyrinth.

Ich schaute nach oben in den Himmel und merkte, dass er immer noch grau war. Blinzelnd schaute ich auf den Boden und dann fuhr ich vorsichtig mit den Fingern über eins der Maisblätter.
Ich hörte Lolas Lachen und Bellas Kreischen.

Verwirrt lief ich in Richtung der Geräusche und sah kurz, wie Nick Lola und Bella hinterherrannte und sie versuchte, zu fangen.
Wie kleine Kinder, dachte ich lächelnd und ging kopfschüttelnd weiter.
Will hatte ich auf dem Weg verloren und irgendwie war ich froh, alleine zu sein, denn gerade die Anwesenheit von Will machte mich total nervös.

Das Kreischen entfernte sich von mir, mit jedem Schritt, den ich in die entgegengesetzte Richtung ging und mit den Händen streifte ich die Maiskolben und genoss es, wie der Wind sie zum Rascheln brachte.

Ich landete an einer Art Lichtung, wenn man das so nennen konnte.
Auf jeden Fall war es ein kleiner Kreis, an dem kein Mais wuchs und in die Mitte des kleinen Kreises setzte ich mich.
Die Erde unter mir war etwas platt getreten, was ich bemerkte, als ich mit den Händen über den Boden fuhr.

Ich hörte ein lautes Rascheln und drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der es kam.
Wills dunkelblauer Schopf tauchte auf und er entdeckte mich direkt.
Ich biss mir auf die Lippe und ärgerte mich, dass ich nicht weitergegangen war, anstatt mich hier hinzusetzen.

Ohne ein Wort kam er zu mir, setzte sich im Schneidersitz mir gegenüber und legte seine Hände auf die Erde zwischen uns.
Dann war alles still.
Der Wind rauschte nicht durch das Feld und das Lachen von den anderen war viel zu weit weg, um es hören zu können.
Alles war still.
Ich hörte nur leise, wie Will atmete und in der Ferne hörte ich Kirchenglocken.

Die Stille war beruhigend. Wäre da nicht Will, der mich fast dazu zwang, ihn anzusehen, so wie er vor mir saß.

Doch ich hatte meine Augen zum Himmel gerichtet und wich seinem Blick aus.

Nach einer Weile jedoch, brach ich ab und schaute zu ihm runter, weil ich es nicht mehr aushielt.

Sein Blick traf auf meinen und ich hatte das seltsame Gefühl, dass er irgendetwas sagen wollte.

Aber nein.
Er stand einfach auf und ging.
Er ging in die Richtung aus der er gekommen war.
Er ging einfach ohne irgendwas zu sagen.

Was zur Hölle war los mit ihm?
Warum hatte er sich überhaupt zu mir gesetzt?
Warum hat er nichts gesagt?
Warum hab ich nichts gesagt?
Warum gehe ich ihm nicht hinterher?
Sollte ich?

Ich konnte mich erst nach einer Weile wieder bewegen.
Dann stand ich auf und verlies das Feld mit Fragen, die nicht aus meinem Kopf verschwinden wollten.

Ich kam kurz darauf bei Alex' Auto an und setzte mich wieder auf die Ladefläche.
Bella, Lola und Nick kamen geradewegs auf mich zu, Alex war direkt hinter ihnen.

Meine Freunde setzten sich lächelnd zu mir und Alex schaute uns fragend an.

Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen und seine Stirn legte sich in Falten.
Dann nuschelte er: "Wo ist Will?"

Und erst dann fiel es mir auf.
Will war nicht da.

Freaks [wird überarbeitet]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt