7. Eiserne Freundin

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Um 4:33 Uhr wurde ich wach. Die roten Zahlen meines Weckers verrieten mir das.
Genervt stand ich auf, da ich eh nicht mehr einschlafen konnte, und ging mich duschen.
Vorsichtshalber warf ich ein Handtuch auf den roten Fleck, damit mir das von gestern nicht nochmal passierte.
Ich betrachtete meinen Unterarm. Die Schnitte waren nicht mehr rot, sie waren fast alle verkrustet und wurden langsam zu Narben.
Es verheilte langsam.
Ein leeres Gefühl breitete sich in mir aus. Ich wollte nicht mehr hier sein. Nicht in Klinik Woods, nicht auf dieser Welt.

Als ich ein paar Stunden später am Frühstückstisch saß, mit Nick und Lola, fiel mir etwas auf.
Immer wenn ich bei ihnen war, ging es mir besser. Viel besser.
Deshalb entschloss ich mich dazu, den Tag mit ihnen zu verbringen.
Doch Nick hatte eine Therapiesitzung und Lola hatte Besuch von ihrer Oma.
So ging ich ins Gemeinschaftszimmer, wo ein paar Jungs und Mädchen saßen.
Sie sahen mich gar nicht, zum Glück. Denn ich war auf der Suche nach etwas ganz speziellem, was ich nicht fand.
In der letzten Ecke der Stifte Ablage war er dann. Der Spitzer. Warum er da war, wusste ich nicht, doch der Grund spielte keine Rolle für mich.
Schnell lies ich ihn in meine Hosentasche gleiten und nahm zur Tarnung ein kleines Taschenbuch mit, damit das Ganze nicht all zu sehr auffiel.

In meinem Zimmer angekommen, tat ich das, was man schon ahnen konnte. Vorsichtig drehte ich die Schrauben auf und in meiner Hand landete eine winzig kleine Klinge, doch sie war groß genug. Ich wusch sie ab und dann setzte ich sie an meinem Arm an.
Wollte ich das wirklich tun?
Nein, das wollte ich nicht, dachte ich und sah meine neu gewonnenen Freunde vor mir.
Ja, dachte ich, als ich meinen Vater vor meinem inneren Auge sah.
Und dann tat ich das, was ich eigentlich schon gewohnt war.
Sehr wahrscheinlich hätte ich noch weiter gemacht, hätte weiter das Blut gesehen und den Schmerz fühlen wollen, doch es klopfte an meiner Tür.
Verdammt.
Das letzte Mal als so was passiert war, war ich in einer Klinik gelandet.
Ich schnappte mir die Klinge und versteckte sie im Regal, ganz hinten, sodass sie keiner sehen konnte.
Dann wickelte ich etwas Verband um meinen Arm und es klopfte nochmal.
"LIZ?", schrie jemand. Es war Will.
Verdammt, dachte ich und zog meinen Ärmel runter.
Ich zischte vor Schmerz auf, doch es tat gut, etwas zu fühlen.
Dann rannte ich zur Tür und öffnete.
"Sorry, ich war gerade im Bad", murmelte ich und lies ihn rein.
"Na, Liz. Was hast du heute vor?", fragte er und warf sich auf mein Bett. Zum Glück hatte er nichts gemerkt, dachte ich.
"Äh. Nichts, du?"
"Jetzt hab ich was vor", sagte er und sprang auf.
"Zwei Fragen: Wie heißt du heute? Und was hast du vor?", fragte ich.
Er steckte seine Hände in seine Hosentaschen und grinste frech.
"Heute bin ich Dave. Und lass uns raus gehen."
Dave. Ich zuckte zusammen. Dave war der Name meines Vaters gewesen. Nicht unbedingt schön, der Name, aber so hieß er eben.
Die Erinnerungen an meinen Vater zogen vor meinem inneren Auge vorbei und mir wurde ganz kalt.
Will fiel das auf und er legte seine Stirn in Falten.
"Alles okay?", fragte er.
"Ja, klar."
"Sicher?"
"Ja! Ganz sicher!", erwiderte ich wieder.
"Warum glaub ich dir dann nicht?", murmelte er.
"Ist doch jetzt auch egal", sagte ich nur kalt und wir gingen schweigend raus.

"So ne Art bipolare Störung."
"Was?", fragte ich und sah ihn an.
"So was in der Art hab ich. Manchmal geht's mir blendend und ich denk ich bin aus dem schwarzen Loch raus, aber dann, im nächsten Moment will ich wieder sterben oder mich in Luft auflösen."
Ich schluckte.
"Wie fühlst du dich gerade?", fragte ich und er lachte auf.
"Nichts von beiden, deshalb bin ich leicht verwirrt."
"Was fühlst du denn dann?"
"Diese Leere in mir sie frisst mich auf. Ich muss ja nicht glücklich sein, aber vielleicht halbwegs zufrieden, das wär toll. Aber nein, der kleine William Anderson hat kein Glück. Hab ich noch nie gehabt und werde ich auch nie haben."
"Alles kommt im Leben zurück", nuschelte ich und fuhr mir durch die Haare.
"Bist du dir da so sicher, Liz? Was ist, wenn es echt so ist? Dass die reichen Menschen alles tun können, was sie wollen. Dass die Armen immer arm sein werden, nie glücklich werden, immer am Hungern oder Kämpfen sind. Was ist, wenn die Lügner, sich immer wieder durchs Leben schummeln und die Wahren immer wieder verlieren?
Was ist, wenn das alles nicht stimmt, Liz? Wo bleibt dann die Hoffnung, dass ich je wieder normal werde?!"

Lange starrte ich ihn an und legte mir eine Antwort zu Recht.
"Was meinst du mit normal? Normal ist langweilig."
"Manisch depressiv zu sein ist aber schlimmer, als langweilig zu sein."
Ich schluckte und versuchte ihn, mit dem dümmsten Standard Spruch aufzumuntern. Ich war einfach nicht in der Verfassung, irgendetwas wirklich sinnvolles zu sagen.
"Will...Ich meine Dave...du bist toll, wo wie du bist. Okay?"
"Nein, verdammt das bin ich nicht! Ich hab so viel falsch gemacht in meinem Leben, Liz. Alles hab ich falsch gemacht. Jedes verdammte Mal hab ich's verbockt! Ich will das nicht mehr! Ich bin ein verdammtes schwarzes Loch! Ich sauge alles ein und verschlinge es für immer. Ich bin der Ort, vor dem man als Astronaut Angst hat. Ich bin die Person, die von niemandem wirklich gemocht wird!"

Während er das sagte, geschah etwas in mir. Ich wollte so viel sagen.
Wollte ihm sagen, dass er schön war mit seinen dunklen Augen, die tatsächlich einem schwarzem Loch ähnelten.
Wollte ihm sagen, dass er faszinierend war mit seinen tausend Namen und seinen dunkelblauen Haaren. Wollte ihm sagen, dass er mir auf eine seltsame Weise half.

"Ich mag dich", brachte ich nur heraus.
Drei kleine Wörter, die eine Stille zwischen uns verursachten, die so unglaublich erdrückend war.
"Tust du nicht", murmelte er und fuhr sich durch die Haare.
"Doch, das tue ich", flüsterte ich und wollte auf ihn zugehen, doch er schüttelte den Kopf.
"Du kennst mich nicht."
"Muss ich das?", fragte ich.
"Wie sollst du mich sonst mögen?"
"Das, was du sagst, interessiert mich. Ich mag dich eben, was ist daran so schwierig zu verstehen, Will?"
"Dave, ich heiße heute Dave."
"Ja. Okay, Dave!", erwiderte ich seufzend.
Stille, wieder.

Auf einmal rannte er weg. Einfach so. Was war das denn?
Enttäuscht seufzte ich auf und ich wusste, ich hatte es wieder verbockt.
Deshalb weinte ich, ich weinte, weil ich es wieder verbockt hatte. Ich mochte ihn so sehr und jetzt hasste er mich. Ganz sicher. Nie würde ich jemanden finden, der mich mochte.
Meine Hand fand wie so oft den Weg zu meiner eisernen Freundin.

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