26. Dunkle Gedanken

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Ich bog um die Ecke in Richtung Waldrand und erhaschte einen Blick nach hinten.

Lolas rote Mähne erkannte ich noch, doch dann radelte ich weiter und vor mir erstreckte sich schon der Wald.

Bella stand bereits neben ihrem Fahrrad und wartete auf uns.

Ich bremste abrupt und machte fast einen Überschlag, so schnell war ich.
Dann schwang ich mich vom Sattel und fuhr mir durch meine braunen Haare.

Lola war mittlerweile angekommen und war atemlos, so wie wir alle.

Keiner sagte etwas, auch nicht, als Will und Nick endlich ankamen.

Erst als wir uns beruhigt hatten und wieder normal atmeten, fing Nick an zu grinsen.

"Das habt ihr gut gemacht fürs erste Mal."

Das Adrenalin war mittlerweile nicht mehr zu spüren, doch irgendwie war ich hellwach.
Wir hatten Fahrräder geklaut, dachte ich.
Wir hatten jemanden beklaut, dachte ich.

Dann brachen wir in lautes Gelächter aus.
"Mann, war das krass", lachte Will und unsere Blicke trafen sich.

Bella räusperte sich. "Alles schön und gut, aber naja. Lass uns lieber noch weiterfahren. Nicht das uns doch jemand hinterher kommt..."

Und so setzten wir uns wieder auf unsere Fahrräder und zum ersten Mal musterte ich mein Fahrrad genauer.

Es war dunkelblau und sah nicht gerade neu aus, doch der Dynamo funktionierte noch.

Wir fuhren durch den Wald, um dort zu rasten und einen Platz zum Schlafen zu finden.

Will radelte neben mir her und der Rest war weiter vorne.
Nick, der ja Pfadfinder gewesen war, hatte am meisten Ahnung und so suchte er nach einem passenden Rastplatz. Er fuhr ganz vorne mit Bella und Lola, die ihm versuchten, zu helfen.

"Das war echt krass", lachte Will und ich schaute vorsichtig zu ihm rüber.

Schnell erhaschte ich einen Blick auf sein dunkelblaues und schwarzes Haar und auf sein kantiges Gesicht.
Dann musste ich meinen Blick wieder auf meinen Lenker richten, der schon leicht unkontrolliert nach links und rechts schwankte.

"Ja, das war echt krass", erwiderte ich nur.

"Liz?"
Ich spürte, dass er mich mit seinen dunklen Augen ansah.

"Ja?", ich schaute wieder zu ihm und unsere Blicke trafen sich.

Seine dunklen Augen, die man mit schwarzen Löchern vergleichen konnte, trafen auf meine haselnussbraunen Augen.
Die Spannung zwischen uns lag in der Luft und ich verlor mich wieder in seinen Augen wie Raumschiffe in schwarzen Löchern.

Dann schaute ich weg. Ich tat es einfach und es war leichter als gedacht, denn ich rief mir in Erinnerung, dass er mich nicht liebte. Und das tat immer wieder weh und so schaute ich weg.

"Liz", sagte Will wieder.

"Was?", fragte ich und starrte auf den holprigen Waldweg vor uns.

Er seufzte. "Danke."

Ich war verwirrt. "Für was?"

"Dafür, dass du - naja - dafür, dass du mich kennst und mich trotzdem noch magst."

Diesmal lächelte ich ihm zu. "Warum sollte man dich nicht mögen?"

Er seufzte leise.
Sein blaues Haar fiel ihm ins Gesicht und er strich es sich genervt zurück.

Ich wollte ihm sagen, wie sehr ich ihn liebte.
Wie viel er mir bedeutete.

"Ich mag dich, William Anderson", sagte ich lächelnd und er schaute nach vorne zu Nick und den anderen.

Ich sah, wie er schmunzelte und sich die Fältchen in seinem Gesicht bemerkbar machten.

"Ich mag dich auch, Allison Baker."

*

Nick hatte eine Lichtung gefunden und ich musste zugeben, dass ich obwohl ich in der Nähe des Waldes gewohnt hatte, nie hier gewesen war.
Vielleicht wäre es hier schöner gewesen als in einem Park, dachte ich und setzte mich neben Will auf das Gras.

Wir bildeten einen Sitzkreis und aßen und tranken etwas.
Bella meinte, sie hätte keinen Hunger, doch Nick gab sich alle Mühe sie zu überzeugen.

Ich wollte ihr auch helfen, doch irgendetwas hielt mich auf.
Vielleicht, weil es gerade mit mir den Bach hinunterging. Wieder mal.

Die dunklen Gedanken schlichen sich in meinen Kopf und die Stimmen waren so laut, das mir ganz schwindelig wurde.

Die Worte meiner Mutter kehrten zurück, die, die sie mir gesagt hatte, als sie mich besucht hatte.
Sie hatte gesagt, dass ich schuld gewesen war.
Ja, das war ich. Aber es von ihr zu hören, zerfetzte mich von innen noch mehr.

Ihre Worte wollten nicht mehr aus meinem Kopf verschwinden.
Ich hörte sie immer und immer wieder, wie sie sie sagte.
Es hörte nicht auf.

'Du Versagerin'

Da war sie wieder, die bekannteste von allen Stimmen.
Meine schwarze Wand, mein tiefes Loch in dem ich lag, meine unendliche Quelle des Leidens.
Kurz gesagt: Meine Depression.
Sie fraß mich auf und sie hielt nie an.
Sie hörte nie auf, mich zu stören, dachte ich und zog die Knie eng an meinen Körper und schlang die Arme um sie. Meinen Kopf legte ich auf meinen Knien ab und schluchzte plötzlich auf.

Die Stimmen wurden lauter, immer lauter.
Ich hörte nicht mal mehr, wie die anderen sprachen.
Die Stimmen brüllten und brüllten.

'Du Versagerin.
Du bist nutzlos, wertlos.
Keiner braucht dich. Alle würden ohne dich klarkommen!
Deine Mutter hasst dich, dein Vater ist tot.
Deine Freunde brauchen dich nicht, Will liebt dich nicht.
Niemand braucht dich.
Du bist nutzlos.
Das beste für alle wäre, wenn du einfach verschwinden würdest!'

Vielleicht sollte ich verschwinden.
Ich hatte schon so oft darüber nachgedacht. Warum tat ich es nicht einfach?

"Liz? Alles okay?", fragte Will und er riss mich zurück in die Gegenwart.

Erst brachte ich kein Wort heraus, dann schluckte ich und obwohl meine Stimme noch zitterte, schaffte ich es dann.

"Alles okay. Alles okay. Alles okay", erwiderte ich hastig und redete es mir dabei auch selbst ein.
Ich redete mir ein, dass alles okay war, dabei fiel ich zurück in mein tiefes, schwarzes Loch.

Will lehnte sich zu mir und flüsterte etwas in mein Ohr und ich bekam Gänsehaut bei seiner rauen Stimme.
"Was ist los?", fragte Will.

Die anderen waren damit beschäftigt, ihre Sachen zu sortieren und irgendwie Decken zu machen aus Jacken und Pullis.

"Es geht mir gut."

Ich spürte, wie Will einen Arm um meine Schulter legte und ich lehnte mich daraufhin leicht gegen ihn.

"Wie geht's dir?", fragte ich ihn leise, weil ich ihn lange nicht mehr gefragt hatte und weil er ein guter Freund war, den ich von ganzem Herzen liebte.

"Wenn ich ehrlich bin, dann muss ich sagen, dass ich keine Ahnung habe.
Irgendwie bin ich froh, dass wir alle zusammen unterwegs sind und dass wir so viel erleben.
Doch die dunklen Gedanken verschwinden nicht so schnell, wie man denkt.
Man denkt sie sind weg und - zack!", er nahm sich einen Stock vom Boden und stocherte in der Erde unter uns herum. "Und dann sind sie wieder da. Einfach so. Obwohl man dachte, dass man zufrieden ist. Vielleicht sogar glücklich."
Er zeichnete krumme Kreise in die Erde und seufzte.

"Das Leben ist unvorstellbar kompliziert. Warum ist das so?", murmelte ich leise.

"Weil es sonst zu einfach wäre, Liz", antwortete Will.
"Es wäre zu einfach. Glücklich werden ist kein Kinderspiel. Man muss sich selbst akzeptieren und all seine Fehler und Macken. So ist das eben. Erst dann kann man doch mit sich selbst ins Reine kommen."

Seufzend schloss ich die Augen. "Ich wünschte, es wäre einfacher."

"Ich auch, Liz. Ich auch. Doch es ist, wie es ist."

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