3. Absturzkinder

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Am nächsten Tag hatte ich ein Gespräch mit einer Therapeutin.
"Also, Allison. Wie geht's dir heute?", fragte sie und das war mit Abstand die dümmste Frage.
"Gut", erwiderte ich und wollte aufstehen, um zu gehen.
"Allison, was hast du auf dem Herzen?"
"Nichts", gab ich genervt zurück. Dabei hatte ich so viel auf dem Herzen. Diese Taubheit, diese Einsamkeit... Alles lastete so schwer auf mir und ich wusste nicht mehr weiter, wenn ich anfing, darüber nachzudenken.
"Allison, in ihrer Akte steht etwas anderes."
"Was? Welche Akte?"
Verwirrt starrte ich sie an. Sie trug ihr Haar offen und ihr Gesicht war kantig. "Ich hatte ein Gespräch mit deiner Mutter. Sie hat mir ein bisschen was erzählt, wie's dir ging bei der Sache mit deinem Vater."
Da war es wieder. Dieses Gefühl. Mein Magen zog sich zusammen, mein Herz schlug ganz langsam, meine Beine knickten ein und meine Gedanken waren so laut und was sie sagten, tat am meisten weh.

Ich spürte gar nicht, dass ich weinte, erst als die Frau mir ein Taschentuch reichte.
"Mein Beileid", fügte die Frau hinzu.
Das kann ich nicht gebrauchen, dachte ich, doch nickte nur.
"Wie hast du dich gefühlt, als du gehört hast, dass dein Vater einen Unfall hatte?"
Wie man sich eben fühlt. Am Ende, dachte ich.
"Nicht gut", sagte ich leise.
"Und was hast du noch gefühlt?"
"Schuldgefühle", platzte es aus mir heraus, obwohl ich mir vorgenommen hatte, nichts dergleichen zu sagen.

Nach der Sitzung fand ich nach langer Suche, Nicks Zimmer. Ich klopfte an seiner Tür.
"Wer ist da?", brüllte jemand.
"Allison!"
Die Tür wurde einen Spalt geöffnet. Nick lies mich rein und wir legten uns auf den Boden unter seinen Planeten an der Decke.
"Wie war die Sitzung?", fragte er.
"Kannst du dir denken", murmelte ich zurück.
"Dazu müsste ich dich noch viel besser kennen, Allison."
Ich zeigte auf die Erde an der Decke, auf den kleinen Kreis zwischen den vielen Punkten.
"Warum hast du die Erde genommen?"
"Naja, ich weiß nicht so ganz. Irgendwie ist da noch ein winzig kleiner Teil in mir, ein wirklich winzig kleiner Teil, der sagt, dass die Erde vielleicht doch besser wird."
"Du hast noch Hoffnung?", fragte ich.
"Vielleicht ein bisschen. Aber nur Hoffnung für die Welt an sich. Nicht für mich."
"Warum nicht?"
"Ich bin Nick Teller. Der depressive Junge von neben an, der die Schule abgebrochen hat, geklaut, gekifft und sich besoffen hat. Ich bin ein Absturzkind. So haben sie mich genannt. So nennen sie mich. So ist es halt."
Vorsichtig drehte ich meinen Kopf zu ihm.
Er hatte die Augen geschlossen, seine Hände lagen unter seinem Kopf, als Stütze, denn der Boden war steinhart.
Seufzend drehte er seinen Kopf in meine Richtung und lächelte bitter.
"Das spielt jetzt aber keine Rolle. Wie bist du hier gelandet?"
Ich überlegte. Ich hatte mir so fest vorgenommen, niemanden in mein Leben zu lassen, dann konnte mich auch keiner verletzten. Falsch gedacht. Ich wurde nur noch einsamer.
Seufzend hob ich meinen Unterarm hoch und deutete auf den Verband.
"Das mein ich nicht. Allison, du bist nicht deine Krankheit. Du bist Allison Baker, keine Depression, keine Narbe. Du bist ein Mensch aus Fleisch und Blut. Es braucht viel mehr, um hier zu landen."
Seine Worte berührten mich irgendwie. Ich hatte ihn gern, Nick Teller, das Absturzkind, wie er sich nannte.
"Mein Vater ist gegen einen Baum gefahren. Das reicht schon, denke ich", sagte ich kalt und ein Stechen in meinem Herzen lies mich zusammenzucken.
Nick nickte nur. Kein Mitleid. Zum Glück. Das konnte ich nicht gebrauchen.
"Mein Vater ist nicht an mir interessiert. Eher an Drogen und Alkohol. Scheiße, ich bin so geworden wie er", murmelte er. Dann stand er ruckartig auf und riss die Zeichnungen von der Wand.
"Ich will nicht so sein wie er! Ich will das nicht!", schrie er.
Mich schockierte das Szenario nicht wirklich, ich kannte das nur zu gut von mir selbst. Ich hatte auch ab und zu meine Ausraster.
Langsam legte ich Nick eine Hand auf die Schulter. Er fuhr zusammen, dann drehte er sich um und ich umarmte ihn einfach.
Seltsames Gefühl, jemanden zu umarmen, irgendwie. Hatte ich lang nicht mehr getan, dachte ich.
"Danke, Allison", nuschelte er und ich löste mich von ihm.
"Das tun Freunde doch, oder?"
"Ich denk schon. Also sind wir Freunde?", fragte er und lächelte leicht.
"Ja, Freunde."

Das Essen schmeckte mir nicht, deshalb lies ich es stehen. Ich hatte eh kaum Hunger.
Bella saß mir gegenüber und man sah ihr an, dass sie am liebsten wegrennen würde. Wegrennen vorm Essen und Zunehmen.
Auf irgendeine Weise verstand ich sie. Aber ich aß genug und das Essen war auch gar nicht mein Problem.
Dafür hatte ich zerstörte Unterarme.
So richtig vergleichen konnte man das natürlich nicht, dachte ich.
Lola gesellte sich zu uns und erzählte irgendetwas über Vögel.
Vögel schienen wohl ihre Leidenschaft zu sein. Vielleicht sollte ich mir auch etwas suchen, für das ich mich interessierte.
Vielleicht würde mir das helfen, dachte ich.

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