Ich beeilte mich, das Klassenzimmer hinter mir zu lassen und zu meinem Spind zu kommen. Ärger über mich selbst stieg ungeahnt in mir auf.
Wie konnte ich nur so dumm sein?
Nur weil sich Kyle mit mir unterhalten hatte, würde er Rhia nicht ablehnen. Sie hatte sich an ihn geklammert, obwohl er ja mich nach Stundenende angesprochen hatte. Und Kyle, ganz in seiner Rolle des Mädchenschwarms, genoss ihr tierähnliches Klammerverhalten.Ich hatte nicht das Recht mich zu ärgern, die zwei waren zusammen. Trotzdem zog ich hörbar die Luft durch meine Nase ein.
Mit zu viel Schwung zog ich den Spindschlüssel aus meiner Hosentasche und er schlitterte über den Boden. Ich kniete mich hin, um ihn aufzuheben. Gerade als meine Finger sich um den Ring schlossen, bemerkte ich tuschelnde Schülerinnen aus meiner Jahrgangsstufe am Ende des Ganges.
"Gott, schau mal, aus welchem Jahrhundert hat sie dieses labbrige Shirt denn geholt?"
"Uh, ganz ehrlich? Ich glaube nicht, dass so etwas jemals in Mode war!"
Empört stand ich auf und versuchte zitternd den Schlüssel in das Schloss zu bekommen.
Wie konnten sie es wagen?
Ich stand praktisch direkt neben ihnen! Wenn sie lästern wollen, sollten sie das gefälligst wo anders tun.
Nachdem ich mir hastig den Zeichenblock unter den Arm geklemmt hatte, stampfte ich schnaubend in die Richtung der Mädchen. Ich hatte echt genug von jeglicher Konfliktvermeidung.
Denen würde ich meine Meinung zeigen, so respektlos wie sie waren.Das rechte Mädchen öffnete ihren Mund, um höchstwahrscheinlich wieder einen gehässigen Kommentar abzugeben, als ich abrupt mein Tempo verringerte und vor ihnen stehen blieb. Doch sie beachteten mich gar nicht und starrten mit großen Augen wie zwei ausgehungerte Wölfe auf das andere Ende des Ganges. Auch mein Mund klappte zu.
Ich wusste es. Ich wusste es, bevor die Worte ihren Mund verließen. Ich wusste, dass er um die Ecke gebogen war.
"Oh Mann, ich würde um jeden Preis mit Rhia tauschen, nur um ihm nah zu sein." Volltreffer.
Ich wollte Kyle auf keinem Fall begegnen. Meine Stimme würde wieder zittern und mein Mund ausgetrocknet sein. Mit holprigen Schritten rauschte ich wieder die Treppen zu den Kunsträumen in den obersten Stock hoch.
Den Blick distanziert geradeaus gerichtet suchte ich mir einen Platz, nur um dann weiter die Tafel anzustarren.Das Schicksal meinte es nicht gut mit mir. Es hasste mich. Und trotzdem kribbelte meine Haut, als Kyle an der Seite des Lehrers den Raum betrat. Sie waren angestrengt in ein Gespräch vertieft und es schien, als kannten sie sich bereits von früher. Meine Augen verfolgten sie, ohne dass ich es merkte, weil ich viel zu vertieft darin war, die Gänsehaut zu unterdrücken.
Unsere Augen trafen sich, ein Lächeln huschte über seine Züge und er zwinkerte mir zu, während er nebenbei mit dem Lehrer ein Schwätzchen hielt. Dieser Typ war unglaublich. Ich konnte es nicht begreifen, er machte mich irre. Ich kannte ihn doch fast gar nicht!Sie hatten ihr Gespräch wohl beendet, denn der Lehrer begrüßte die Klasse und begann die Stunde. Ich hörte Kyles Schuhe auf dem Boden und ein eine raschelnde Jacke, als er sich setzte. Ich lenkte meinen Blick demonstrativ auf den Lehrer und versuchte die Geräusche mit seinem Gerede übertönen zu können.
Klong. Klong. Klong. Klong.
Genervt suchte ich nach der Ursache des Geräuschs, als ich Kyles Stift sah, der rhythmisch auf den Tisch klopfte.
Ich studierte ihn nicht weiter, sondern versuchte dem Kunstlehrer zu folgen. Ich scheiterte, als dieser sogar in der große Pause seinen Unterricht durchzog.
Am Ende der zweiten Stunde verkündete unser Lehrer, dass wir vorerst in unserem Kopf unseren "naturellen Ursprung" überdenken sollten.
Belustigende Gedanken schlichen sich in meinen Kopf .
Gleich würde ich ihm mal etwas "Materielles" an seinen Kopf werfen. Mal schauen, wie er das fand.Er meinte wir könnten danach unsere persönlich Meinung zum ersten Thema bilden.
Die inspirierende Stärke der Natur. Juhu.Mit dem Gong und leider der eindeutigen Hausaufgabe, dass wir eine Zeichnung anfertigen sollten, verließ ich den Raum.
Endlich Unterrichtsschluss. Erster Schultag geschafft.
***
Zuhause beschloss ich, direkt die Kunsthausaufgaben zu erledigen, da wir morgen eine Vertretungsstunde in diesem Fach hatten.
"Um meine Inspiration zu verstärken" (gut bei mir wahrscheinlich erstmal aufkommen zu lassen), so laut dem Kunstlehrer, lief ich in den Wald.
"Man müsse die Natur auf sich wirken lassen", zitierte ich gedanklich den Kunstlehrer. Nun gut, ich würde dem ganzen fairer Weise eine Chance geben. Deshalb bog ich einfach in die Tiefen des Walds ein, bis ich einen großen Stein entdeckte. Glücklich setzte ich mich auf meinen Fund und versuchte mich an die Entspannungsübungen aus Yoga von meiner Mom zu erinnern.
Erstmal Schneidersitz.
Tief und langsam atmen.
Grinsen unterdrücken.
Ruhige Gedanken bekommen.
Sich jede Faser seine Körpers bewusst werden lassen. Von den Haaren bis in die Fußzehen.
Beim atmen zog ich unversehenen eine Haarsträhne in meinen Mund und verschluckte mich. Hustend hielt ich mir die Hand vor den Mund und spuckte sie wieder aus. Schnell setzte ich mich erneut aufrecht hin und konzentrierte mich auf meine Atmung.Schultern entspannen.
Eines mit der Natur werden.
Nun gut.
Ein vortrefflich entspannender Laut entwich meinem Mund: Ommmmmm.
Das sollte doch angeblich Wunder wirken.
Und das tat es. Mein Körper genoss die Ruhe und ein Prickeln überlief mein rechtes Ohr.
Warte! Warum nur mein Ohr?
Unruhig berührten meine Hände mein rechtes Hörorgan und ertasteten ein kleines Tier. Erschreckt machte ich einen Hopser zur Seite und landete unsanft auf etwas Harten. Unterdessen wälzte ich mich panisch hin und her, während meine Hand die ganze Zeit an meiner rechte Gesichtshälfte herumfummelte.Schließlich beruhigte ich mich, als ich aus dem Augenwinkel eine kleine Ameise an mir vorbei krabbeln sah. Ich lachte leise über mich selbst. Hatte ich die Aufgabe nicht hervorragend gemeistert? Ich war eines mit der Natur geworden.
Beim Aufstehen stieß mein Fuß gegen den kurzen, scheinbar abgeschnittenem Stock auf dem ich vorhin gelandet war. Ich bückte mich und nahm den grünen Bambusstock in die Hand. Es fühlte sich...
überraschend gut an. Ich beschloss es mitzunehmen und Zuhause noch eine Zeichnung anzufertigen.Wie es sich erwies, dauerte es wesentlich länger, bis mir ein prächtiger Bambusstrauch von meinem Blatt entgegen strahlte, als erwartet. Dankbar tätschelte ich das Bambusstück, dass an meinem Schreibtisch lehnte. Es war eine wunderbare "Inspiration" gewesen, wie sich Herrn 'Kunstlehrer' ausdrücken würde. An seinen Namen konnte ich mich nicht mehr erinnern.
Kichernd wandte ich mich ab.
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Lodernde Blüte
FantasyVerunsichert, ohne Freunde. Allein, kein Vater. Unbeachtet, ein Nichts. Niemand kennt sie. Niemand sieht, was tief in ihrem Inneren verborgen liegt. Bis jetzt. Der Schein trügt die junge Cora, welche mit der Existenz der verborgenen Inseln, der Heim...