Das Tabuthema

145K 5.9K 472
                                    

Als ich endlich vor dem Schulzimmer zu stehen komme, erkenne ich, dass der Stopp am Kiosk nicht sehr schlau gewesen ist. Die Tür ist zu und es ertönt vom Klassenzimmer aus schon eine Stimme, die sich nach Lehrer anhört. Scheisse, wie konnte ich das vergessen, heute haben wir zum ersten Mal bei unserem neuen Geschichtslehrer Schule. Ich mache also schon mal einen guten Eindruck, als ich mich möglichst leise ins Schulzimmer schleiche. „ Ah, einen Moment bitte, mein Liebe", ertönt es von der Tafel her. Tja, Pech gehabt. "Wenn ich recht habe, beginnt diese Stunde um Punkt halb acht und keine Minute später". Leicht beschämt wende ich den Kopf von meinen glotzenden Klassenkameraden ab und schaue mir den neuen Lehrer an. Er sieht aus wie ein Lehrer aussehen muss: Mitte 40, graue Kleider und eine große Brille auf der Nase, durch die mich zwei Augen böse anstarren. Das kann ja lustig werden. „Endschuldigen Sie meine Verspätung, das kommt nicht wieder vor", murmle ich in meinen nicht vorhandenen Bart. "Hoffen wir das doch, aber jetzt wo Sie schon mal da sind, können Sie gleich vorne bleiben. Also wie heißen Sie, was sind Ihre Hobbys und was haben Sie in ihrem Leben schon geschafft, auf das Sie stolz sind? Damit es nicht unfair ist, fange ich an. Mein Name ist Hr. Brown......." währen der Lehrer etwas über Golfclub und Briefmarkensammlungen murmelt, probiere ich möglichst den Blicken meiner Klassenkameraden aus dem Weg zu gehen, diese schauen mich entweder belustig, ängstlich oder wie die meisten, mit totalem Hass an. Das wird sicher toll mit der Vorstellung, HA-HA. „So, jetzt sind sie dran Miss...?" Erschrocken schaue ich hoch, er ist schon länger fertig mit seiner Rede. " Also, ich heiße Rosalie Black und bin gerade 16 geworden. Meine Hobbys sind: Kickboxen, tanzen & skaten, was ich geschafft habe..." Doch ehe ich zu Ende erklären kann, dass ich noch nichts so meisterliches geschafft habe, wie z.B. mein neuer Lehrer mit seiner großen Briefmarkensammlung, ruft Paul, der Möchtegern-Badboy der Klasse rein: "Haha, das ist ganz einfach, sie ist ihren Brüdern so lange auf die Nerven gegangen, dass diese jetzt abgehauen sind. Deswegen hat unsere Mannschaft die Meisterschaften vor 2 Jahren verloren und hat seither auch keine Chance mehr auf den Titel. Aber Achtung, kommen Sie ihr nicht zu nah, sonst landen Sie noch im Krakenhaus, so wie Kim Webster, die..." Bevor er seine Lügengeschichte weiter erzählen kann, unterbricht ihn der Lehrer: "Ich bin mir sicher, dass uns das Miss Black alles selbst erzählen kann, wenn sie möchte und es denn auch alles stimmt". „Nein, ist gut, ich muss nichts mehr hinzufügen. Kann ich mich endlich setzen?" Mit einem geschockten Blick und einem Nicken schickt mich der Lehrer wieder an meinen Platz. Klar, ich hätte alles abstreiten können, erklären, dass alles dumme Gerüchte sind, diese Kim einfach gegen mich gelaufen war und ich weder mit dem noch mit dem Verschwinden meiner Brüder etwas zu tun habe, genau so wie ich es in den ersten Wochen auch versucht habe. Doch die Leute haben mir da nicht geglaubt, warum sollten sie mir jetzt glauben? Somit verbringe ich den Rest der Stunde damit, Pauls Rücken mit Blicken zu durchbohren.

Als dann auch endlich die letzte Stunde mit diesen tollen Leuten zu Ende ist ( man bemerke die Ironie) mache ich mich auf schnellstem Weg nach Hause. Im Kopf lege ich mir währenddessen ein paar glaubwürdige Ausreden parat, irgendwie muss ich meiner Mutter ja die 6 in Mathe und die Verwarnung, die ich dank meiner Verspätung bekommen habe, erklären. Ich glaube, wenn es die erste Verwarnung gewesen wäre, würde meine Mutter ganz anders reagieren, doch leider war's nicht die erste... An die kann ich mich noch ganz genau erinnern. Ich hatte sie mit 13 bekommen, aus dem einfachen Grund, dass es meine Brüdern gibt. Mann sollte vielleicht noch sagen, dass meine Brüder keine Musterschüler waren, im Gegenteil, und da dem lieben Lehrer als erstes beim lesen meines Namens „Nicht schon wider Black!" über die Lippen kam, war klar, dass ich es dort nicht leicht haben würde. Als ich dann nach jenem Tag mit der Verwarnung dieses Lehrers nach hause kam, haben mich meine Brüder umarmt und mich Willkommen geheißen im Club der „Black Geschwister". Wie sehr wünsche ich mir jetzt gerade, dass wenn ich die Tür auf mache Lucas immer noch, wie an jenem Tag, auf dem Sofa sitzt und mich mit dem Spruch „Wenn du dann mit deiner dritten Verwarnung heimkommst, darfst du so ein Gesicht machen, dann hast du mich fast eingeholt. Aber bei der ersten musst du dich freuen, dass du doch nicht so brav bist, wie alle denken, meine Kleine." begrüßte. Darauf hin bekam ich eine Lucas-Umarmung und glaubt mir, diese Umarmungen sind mehr als Gold wert, es sind diese Umarmungen, wo einem die Luft wegbleibt, aber man nichts sagt und sich nicht rührt, weil es nichts besseres auf der Welt gibt. So eine Umarmung hätte ich jetzt gerne, denke ich mir, als ich über die Schwelle in unser Haus steige. Doch das funktioniert leider nicht, denn weder ist Lucas da, noch könnte er diesen Satz wiederholen, denn ich habe meine Brüder überholt mit Verwarnungen und Elternbriefen und zwar um einiges.

Was dann kommt, hätte ich euch schon im voraus erzählen können. Meine Mutter braucht gerade mal zwei Sekunden, um sich zu sammeln und loszuschreien: „ Was sollen wir nur mit dir machen, du machst nichts mehr mit deinen Freunden,  tanzt oder trainierst nur noch alleine im Keller, anstatt zu lernen, deine Noten sind schlechter denn je, und im Haushalt könntest du auch mehr helfen". Meine Mutter in diesem Augenblick auf Frau Sofia aufmerksam zu machen, die gerade unser Essen kocht, wäre eine schlechte Idee gewesen. „Ich weiß wirklich nicht mehr weiter mit dir, du benimmst dich schlimmer als alle deine Brüder zusammen. Ich bin mir sicher, sie hätten sich nie so verhalten!" Das war zu viel, das wahr einfach viel zuviel! Geschockt starre ich meine Mutter mit offenem Mund an, sie hat auch gerade in diesem Moment begriffen, was sie alles gesagt hat. Meine Brüder sind ein Tabuthema in diesem Haus. Das einzige, was ich und ich denke auch meine Eltern von ihnen hören oder sehen ist, dass wenn wir unsere Kontoauszüge von der Bank anschauen, sehen, dass sie, wie jeden Monat, das Geld für die Miete abgeholt haben. Mein Vater konnte sie damals nicht aufhalten zu gehen, aber er konnte sie wenigsten dazu überreden, das Geld für die Miete und für die gröbsten Verpflegungen anzunehmen. Wenn ihr mich fragt, kann man mit diesem Geld eine ganze Fußballmannschaft ernähren . „Wie kannst du nur?", sage ich zu meiner Mutter. Als sie antworten will, spreche ich schon weiter: „Du weisst genau, dass sie nie so schlimm waren und wen doch, dann nur wegen euch, ihr seit auch der Grund warum sie gegangen sind, du und Papa hattet immer so große Erwartungen an sie, habt ihnen nie Liebe gezeigt, nie ihre Vorteile gelobt, sondern nur auf ihren Fehlern rumgehackt! Ihr seid schuld, ihr alleine, genau wie ihr schuld daran seid, was mit mir ist! Weisst du, ich konnte früher nie verstehen, wenn die Jungs so etwas über euch gesagt haben, noch weniger konnte ich es verstehen, dass sie abgehauen sind. Doch jetzt verstehe ich es! Meine Brüder haben mich die ganze Zeit geschützt, mir die Liebe und die Familie gegeben, die meine Eltern mir nicht geben konnten- Und da ich eh nur die kleine brave Vorzeigetochter war, habt ihr nie auf mir rumgehackt, ihr habt bei ihnen schon genug Fehler gefunden! Doch jetzt habt ihr nur noch mich und lasst alles an mir aus: Euern ganzen Druck, dass ihr die perfekte Vorbildsfamilie wollt, muss ich tragen!!" Mit dem Krach, den ich veranstalte, kommt auch noch mein Vater in Zimmer gestützt. „Und wisst ihr was? Ja, ich verstehe, warum sie abgehauen sind und nach San Diego gezogen sind. Das einzige, was ich nicht verstehe ist, warum sie mich nicht mitgenommen haben!" Mit diesen Worten stürme ich in mein Zimmer,  reisse die Tür zu und lasse mich an ihr auf den Boden sinken. Ich hasse mein Eltern dafür, dass sie mir meine Brüder genommen haben, ich hasse meine Brüder dafür, dass sie mich allein gelassen haben und sich nicht bei mir melden. Vielleicht haben sie schon eine neue kleine Prinzessin gefunden. Und ich hasse mich, da ich mir die Mitschuld an der ganzen Situation gebe. Wenn ich nicht so naiv gewesen wäre und in meiner pinken Welt gelebt hätte, hätte ich das ganze sicher verhindern können.

Rose, aber Rosalie für euch! Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt