Die Mappe

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Es ist schön eingerichtet, wie aus einem Katalog. Alles in schwarz, weiss und  grau gehalten. Neben dem Fernseher steht ein grosses Bett, mit passender Bettwäsche im Raum, ein Computer, ein Schrank eine weitere Tür und ein Pult. Es sieht vom Aufbau her aus wie ein Spiegelbild von Chris' Zimmer. Nur dass dieses Zimmer aussieht, als würde die Person hier nicht drin leben, sondern nur schlafen und dann wieder gehen. Es ist viel zu ordentlich. Einzig und alleine an der Schranktür, dort hängt ein Ärmel eines Pullis raus. Auf seinem Pult liegt eine grosse Mappe und diverse Stifte, dass man heute noch solche Mappen hat. Der Rest des Zimmers wirkt unbelebt und kahl. Auch sonst sind die Wände nackt und weiss. Bis auf ein kleines Foto, das oberhalb seines Bettes angeklebt ist. Als ich näher gehe, sehe ich auf dem Foto einen kleinen Jungen und eine etwas ältere, aber bildhübsche Frau. Ohne Zweifel ist der Junge Kyle, und auch die Frau sieht im sehr ähnlich, verwandt müssen sie sicher sein. Also entweder seine Mutter oder die Mutter von Chris, seine Tante. Als ich das Bild leicht berühre, fällt es runter, tolles Klebeband hast du ja, Kyle. Komisch, das Bild ist noch grösser. Die eine Ecke wurde umgefaltet. Dort steht auf der anderen Seite der Frau ein Mädchen, etwas jünger als Kyle. Sie sieht Kyle so ähnlich, das kann nur seine Schwester sein. Stimmt er hat da ja gestern was erwähnt. „Du Chris?" schreie ich Richtung Dusche. „Was ist denn los Rose?" Ich stehe vor die Badezimmertür, um besser mit ihr reden zu können. „Wer ist die Frau und das Mädchen auf dem Foto in Kyles Zimmer?" Das Bild hatte ich immer noch in meiner Hand. „Meinst du das mit seiner Mutter?" „Ich hab keine Ahnung wie seine Mutter aussieht, aber es ist das einzige in seinem Zimmer." In Zwischenzeit hat Chris die Türe aufgemacht und steht in einem Badetuch und vor einer enormer Dampfwolke in  der Tür. „Zeig mal her!" Sie schnappt sich das Bild und staunt nicht schlecht . „Ich dachte immer, er habe sie rausgeschnitten und es nicht nur umgefaltet", sagt Chris erstaunt. „Warum, wer ist sie denn? Chris, du wolltest mir eh noch das wegen gestern erzählen, als Kyle gesagt hat, er sei mit Mädchen aufgewachsen. Hat sie etwas damit zu tun?" Ich werde immer neugieriger, doch ich bin mir sicher, dass das Kyle nicht so recht wäre, wenn mir Chris das jetzt erzählt. Das sieht sie wohl ähnlich: „Eigentlich sollte dir das Kyle erzählen, aber wenn er es macht, wird es sicher zu spät sein und so weisst du zumindest,  auf was du ihn besser nicht ansprichst. Also die Frau auf dem Bild ist meine Tante, also seine Mutter. Und das Mädchen ist Madison, Mady ist meine Cousine, also seine kleine Schwester." „Halt, halt!" unterbreche ich sie. „Warum leben sie dann nicht auch bei euch?" „Dir hat noch niemand so richtig erzählt, warum Kyle bei uns wohnt, oder?" Als ich verneine erzählt sie weiter: „Also Kyles Mutter hat sich vor fast drei Jahren das Leben genommen, etwa drei Monate bevor deine Brüder zu uns kamen. Kyle war zu dieser Zeit voll in der Pubertät und wollte alles ausprobieren, von Drogen über Autorennen, Hauptsache verboten und nicht das, was sein Vater wollte. Kyles Vater ist ein angesehener Banker, er kam mit dieser neuen Art von Kyle überhaupt nicht zurecht und schlug Kyle jedes Mal, wenn dieser nur eine Kleinigkeit gemacht hat. Was Kyle da noch nicht wusste war, dass der Vater Kyles Mutter die Schuld an allem gab, da sie ja schliesslich für die Erziehung verantwortlich war. Lea, seine Mutter, war der liebste Mensch, den du dir vorstellen kannst, sie hatte immer ein Lächeln auf dem Gesicht und so viel Verständnis für uns alle. Auch hat sie Kyle nie Vorwürfe gemacht, wenn er mit einem blauen Auge heimgekommen war. Sie hat ihn gefragt und ihm zugehört und probiert zu verstehen." Als sie das erzählt, laufen ihr immer mehr Tränen übers Gesicht. „Sie war der beste Mensch, du hättest sie geliebt. Als sie sich dann das Leben nahm, hatte sie an ihre ganze Familie Briefe geschickt, für jeden einzelnen von uns. Meine Mutter hatte sie darin gebeten, gut auf Kyle und auf Madison aufzupassen, mich hatte sie vor allem gebeten gut auf Kyle aufzupassen, da ich im Alter näher an ihm bin als an Madison. Ich sehe diesen Tag noch heute noch vor mir: Er hatte sie gefunden, tot in ihrem Bett, ganz friedlich und mit drei Briefen in der Hand, an Kyle, seinen Vater und Madison. Ich war bei ihm, weil er mir noch Mathe erklären wollte, das einzige was ich gehört habe aus dem Zimmer war wie mich Kyle angeschrien hat, ich sollte draussen bleiben und Madison von diesem Raum fernhalten. Daraufhin habe ich Kyles Vater geholt, der unten in der Küche am arbeiten war. Dieser stürzte dann nach oben ins Zimmer, ich hinterher. Und dann sah ich ihn, so habe ich ihn noch nie gesehen und auch nachher nie mehr. Er lag zusammengekauert neben dem Bett und weinte bitterlich, den Brief hatte er in seiner Hand und an sich gedrückt. Kyles Vater rüttelte vergeblich an seiner Frau und auch die Notfallärzte konnten nichts mehr machen. Sie hatte eine ganze Packung Tabletten genommen. Kyles Brief war am längsten, darin erklärte sie ihrem Sohn, dass ihr alles so leid tun würde, sie aber einfach nicht mehr könne. Kyle wusste genau, was sie meinte. Er hatte am Abend zuvor herausgefunden, dass sein Vater auch seine Mutter schlug. Er hatte einen riesen Streit mit seiner Mutter, hat sie angeschrien warum sie sich denn nicht scheiden lasse und machte ihr Vorwürfe. Obwohl es allen klar war, dass der Vater die grösste Mitschuld traf, akzeptierte dieser das nicht. Er gab Kyle die alleinige Schuld und gab Madison ihren Brief nicht, sondern erzählte ihr eine völlig verdrehte Version des Ganzen, so dass diese sich dann auf die Seite ihres Vaters stellte und Kyle ebenfalls die Schuld gab. Die beiden gingen so weit, dass sie auf den Grabstein von Lea nur geschrieben haben: Hier liegt eine geliebte Ehefrau und eine stolze Mutter einer wunderbarer Tochter. Die folgende Zeit war schwer für uns alle, meine Mutter trauerte stark um ihre Schwester, musste nebenbei aber noch mit dem Jugendamt und Kyles Vater streiten, da dieser uns kein Geld geben wollte, obwohl Kyle bei uns wohnte. Genauso wenig wollte er Kyle seinen Anteil am Erbe überlassen oder die Sachen, die seine Mutter extra für ihn auf die Seite gelegt hatte. Sobald alles mit dem Gericht abgeklärt worden war, zog Kyles Vater weg. Madison entschied sich mitzugehen. Sie hatte die Wochen, in denen sie noch da waren, kein Wort mit Kyle geredet und nur selten mit mir. Wenn sie wirklich mit mir geredete hatte ging es darum, ob ich mir sicher sei, dass ich Kyle in mein Haus lassen wollte, da sonst meine Mutter auch noch sterben würde. Kyle rutschte immer mehr ab, er kam immer später nach Hause. Man sah ihm an, wie ihn das ganze zerriss, in den zwei Wochen hat sein Vater es geschafft, dass Kyle wirklich selbst daran glaubte, dass er schuld hatte, weil er nicht da war und nur Blödsinn gemacht hatte. Als dann deine Brüder kamen, wurde es besser. Vor allem mit Valentin hat er sich oft stundenlang weggeschlichen und geredet, nach jedem Gespräch sah er wieder etwas besser aus. Da Kyle viele Schulden hatte bei der damaligen Gang halfen ihm deine Brüder und gründeten am Schluss die Blacks. Nach etwa einem Jahr waren alle Mitglieder der ehemaligen Gruppe zu den Blacks gewechselt und so lösten sich Kyles Schulden auf. Das sehen zwar nicht alle Leute so, aber die wichtigen schon. Von Madison haben wir nie mehr was gehört, und das einzige was wir von seinem Vater hören, ist die monatliche Geldüberweisung."

Als sie endet, sehe ich sie immer noch völlig fassungslos an. Die Hälfte der Geschichte hat sie mir weinend und in meinen Armen erzählt. Auch hat sie sich dafür am Schluss bedankt, da sie noch nie mit jemandem so richtig darüber gesprochen hatte. Ich hab ihr das mit dem Dankesagen gleich wieder ausgeredet. Ich meine, wofür sind beste Freundinnen da? In meinen Kopf drehen sich die Gedanken nur so.  Ich dachte immer, ich hätte es mit meiner Familie schlimm, aber Kyle... Abwesend sage ich zu Chris: „Ich gehe das Bild wieder aufhängen."

Als ich wieder in seinem Zimmer bin, merke ich wie auch an meinen Wangen Tränen runterlaufen. Als ich schon fast wieder bei der Tür stehe, fällt mein Blick noch mal auf die Mappe auf seinem Pult. Sollte ich? Aber es ist wirklich privat. Nur ein kurzer Blick.
In der Mappe liegt ein grosses Heft. Auf der ersten Seite steht mit schöner Schrift: „Alles Gute zum Geburtstag mein kleiner Rebell. Ich weis, zeichnen ist nicht mehr „cool" in deinem Alter, aber ich fände es schön, wenn du dein Talent fördern würdest. In Liebe deine Mama." „Rose, kommst du? Du musst mir die Haare machen, die haben gerade ihre schwierigen fünf Minuten." Ihre Stimme scheint wieder stark und fröhlich zu sein. Widerwillig löse ich meinen Blick von der Mappe und gehe zu Chris.

Jetzt hab ich schon eine ganze Folge „Gossip Girl" auf dem Computer von Chris geschaut und Kyle ist immer noch nicht da. Er hat mir zwar geschrieben, er müsse noch extra Runden laufen, aber langsam habe ich keine Lust mehr zu warten. Liegt vielleicht auch daran das sich Chuck und Blair gerade streiten, über den Grund kann ich nur den Kopf schütteln. Also stehe ich auf und kämpfe mal wieder mit meinem Gewissen. Aber ich meine, es würden doch sicher alle das selbe machen, oder?

Langsam gehe ich wieder rüber in das Zimmer von Kyle und stehe wieder vor dieser braunen Mappe. Okay, eins zwei drei.
Wow, wenn einer zeichnen kann, dann er. Auf dem ersten Bild ist einfach nur ein typisches Jungenzimmer, aber so genau gezeichnet, das ist krass. Die darauf folgenden Bilder sind alle wunderschön und voller verschiedener Farben. Einmal sieht man einen bildschönen Strand, ein anderes Mal ein Wald. Und einmal seine kleine Schwester, wie sie ihm die Zunge raus streckt.

Dann plötzlich kommt ein anderes Bild. Ich erschrecke mich, so anders sieht es aus. Es ist nur mit Bleistift und ohne Farben gezeichnet. Der Todestag seiner Mutter. Auf dem Bild sieht man nur ein Bett mit einer schlafenden Person darin, doch die Züge der Person sind so fein ausgearbeitet, dass ich sie erkenne. Die darauf folgenden Zeichnungen sind alle düster gezeichnet und zeigen alle schlimme Dinge, als wolle er damit das verarbeiten, was er gesehen hat. Auf dem einen Bild schreit ein Mann laut und ist dabei, mit der Hand auszuholen. Ich nehme an, das ist sein Vater. Auf den nächsten kommt dieser Mann häufiger vor. Auf allen Bildern wirkt er wütend und böse, so dass ich nur durch das Bild schon Angst von ihm habe. Ich blättere weiter, es kommen jetzt auch wieder andere Bilder, doch die meisten wirken kalt und nie so lebensfroh, wie die Bilder am Anfang. Plötzlich sticht mir wieder ein Bild ins Auge. Darauf sind meine Brüder. Es ist mit Farben gezeichnet. Sie stehen alle im Kreis und lachen. Valentin winkt einem vom Bild aus zu, als würde er einen einladen zu sich zu kommen. Das musste am Anfang ihrer Freundschaft gewesen ein, als noch keiner meiner Brüder Tattoos hatte. Ich merke, dass es noch gut hundert Bilder drin hat und so blättere ich bis zum Schluss. Es nimmt mich ja wunder, wann er das letzte gezeichnet hat.
Mein Inneres mahnt mich: Rose, das darfst du nicht, das ist wie wenn jemand dein Tagebuch lesen würde. Mit dem Gedanken: Ich hab ja gar keines, öffne ich die letzte Seite und erstarre.

Das bin ich. Gestern. Auf der Zeichnung habe ich wie gestern den Blumenkranz auf dem Kopf, den mir Kyle gemacht hat und schaue verträumt aus dem Bild heraus. Jedoch hat er meine Augen verändert, sie sind nicht blau-grün sondern nur blau, ganz ein helles Blau, das so aussieht wie ein blauer Himmel an einem wolkenlosen Tag. Ich starre immer noch wie gebannt auf die Zeichnung und schrecke erst auf, als ich einen heissen Atem in meinem Rücken fühle: „Rose, was machst du da?"








Hallo meine Lieben❤️
Ich hoffe das Kapitel gefällt euch und es geht euch gut!
Danke euch viel mal für die tollen Votes und Kommentare! Ich hätte nie mit so viel Unterstützung gerechnet!
LG Marlen

Rose, aber Rosalie für euch! Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt