San Diego

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Heute ist der letzte Tag mit meinen Eltern. Sie sind schon den ganzen Tag am arbeiten, so habe ich Zeit, für mich zu packen. Ich schaue mich in meinem Zimmer um, es ist ziemlich leer geworden und sieht den anderen drei Zimmern im Haus jetzt sehr ähnlich. Wie bei ihnen merkt man nun auch in meinem Zimmer, dass hier nicht wirklich jemand lebt. Ohne meine Unordnung und die von meinen Brüdern wirken alle Zimmer wie eingefroren. Sie werden geputzt und sind perfekt aufgeräumt, aber zu perfekt, als dass in ihnen Leute wohnen könnten. Ich habe alles mitgenommen was mir wichtig scheint. Ich habe auch für länger als drei Monate gepackt, also Sommer- und Winterkleidung, denn ich weiß nicht wie, lange ich bei Oma sein werde.

Als es dann endlich drei Uhr ist, kommen meine Eltern, um mich zu verabschieden. Nein fahren können sie mich natürlich nicht... „Tut mir leid Schätzchen, aber wir haben so viel zu tun mit der Firma." Die Übersetzung dafür ist, wir haben keine Lust, Helene zu begegnen.

Ich will gerade ins Auto steigen, als mich eine Stimme aufhält. „Rose, he Kleine, du willst doch nicht wirklich gehen, ohne dich richtig zu verabschieden, oder?" Mit einem Grinsen im Gesicht umarme ich Tim, meinen einzigen treuen Freund. Ich habe ihm gestern noch geschrieben, da er aber eh auf ein Internat geht und nur am Wochenende zu Hause ist, ist es nicht so schlimm. „Nein, ich dachte nur, du hast wieder die ganze Nacht ohne mich durchgefeiert und pennst noch." Auf meinen Kommentar pickt er mich kurz in die Seite. „ Ich werde dich vermissen meine kleine Maus, wir wissen aber beide dass es besser für dich dort ist und du es gut haben wirst. Ich verspreche dir, ich schnappe mir bald den heißen Typ aus dem Internat (ja, Tim ist schwul), der wohnt ganz in der Nähe von deiner Oma und dann komme ich ganz oft zu dir." „Das will ich doch hoffen, dass du dir den endlich schnappst! Deinem Charme kann er sicher nicht lange widerstehen, aber ist er überhaupt schwul?" „Keine Ahnung, aber wenn er es nicht ist, wird er es, glaub mir!" Er sieht mich auf einmal ganz ernst an, als ich als Antwort die Augenbraue hochziehe sagt er: „Du musst mir etwas versprechen: Wir wissen beide, wer in San Diego lebt, wenn du ihnen begegnest oder auch nur ein Lebenszeichen von ihnen wahrnimmst, musst du mit ihnen sprechen. Lass sie es dir erklären. Ich weiß, du bist ein Sturkopf, das bin ich auch, aber dieses Leid ist das nicht wert. Versprochen?" Ich schaue ihn mit grossen Augen an, das hatte ich völlig verdrängt. San Diego ist zwar groß, aber nicht so groß, und wie ich meine Brüder kenne, sind sie nicht gerade unauffällig. Ich nicke langsam. „Okay, ich werde es probieren, aber ich kann dir nichts versprechen." Ich umarme ihn noch ein letztes Mal, winke meinen Eltern, die schon wieder am Handy sind und steige in den Wagen. Es ist schon komisch, dass genau Tim das sagt. Er wurde genau so verlassen wie ich, ich kannte ihn zuerst nur durch meine Brüder. Er war der beste Freund von Valentin und Jeremy, den jüngeren meiner drei Brüder, den ähnlichsten Zwillingen, die ich kenne. Sie sind wie Fred und George aus Harry Potter. Nachdem ich die Filme gesehen hatte, haben Lucas und ich sie Wochen lang nur noch so genannt. Als Vale (Valentin) und Jerry (so darf bloss ich Jeremy nennen) an ihrem ersten Schultag mit Tim im Schlepptau heimkamen, wussten wir alle, dass Tim zur Familie dazugehört. So bekam ich an diesem Tag einen vierten Bruder, der einzige der jetzt noch da ist. Bei den Gedanken über meine glückliche Kindheit und über Harry Potter Figuren, fallen mir langsam die Augen zu. Also ab in ein neues Leben.

Ich sehe sie schon von weitem. Ich habe meiner Oma geschrieben, wann wir ungefähr ankommen, und jetzt steht sie am Gartentor vor dem süßen Haus und winkt freudig dem Auto zu, als wüsste sie, dass ich seitdem ich aufgewacht bin, nur herum schaue. Es hat sich nicht viel geändert seit meinem letzten Besuch. Der Garten ist immer noch gleich blumig, sogar unser Baumhaus steht noch, wie eh und je von Efeu überwuchert, an demselben Ort. „Mein Kind, endlich habe ich dich bei mir! Du hast mir so gefehlt. Schöne Stecker hast du in den Ohren, die hast du dir aber sicher ohne Mamas Erlaubnis gemacht. Ach, das habe ich mir auch gemacht, als ich jung war..." Mit diesen Worten empfängt sie mich und schlingt ihre einladenden Arme um mich. Ich fühle mich so geborgen wie schon lange nicht mehr, meine Oma ist die Künstlerin im umarmen. Ich glaube, sie hat ihr Talent an Lucas vererbt. „Du hast sicher Hunger, ich habe Pizza und Eis im Gefrierfach!" „Ja, etwas zu essen wäre nicht schlecht." Mein Magen knurrt zustimmend. „Also dann, auf zu den Kalorien! Du bist ja genau so schlecht wie ich in Mathe, also ist es ganz einfach: Wir können sie nicht zählen also zählen die Kalorien auch nicht!" Meine Oma geht mit schwingenden Hüften und einer meiner Taschen schon mal ins Haus, während ich immer noch über ihre Gedanken lache. Man sieht ihr diese Denkweise über Kalorien an, aber das macht sie zu einer noch perfekteren Oma!

Im Haus sieht es aus wie immer: etwas altmodisch aber sehr geräumig eingerichtet. Überall hängen Fotos von meinen Brüdern und mir. Bei meinem Lieblingsfoto bleibe ich stehen, es zeigt mich und meine Brüder am Frühlingsfest vor zweieinhalb Jahren, es ist eines der letzen Fotos zu dieser Zeit. Lucas stand in der Mitte und ich vor ihm, er hatte beide Arme um mich geschlungen, er grinste und ich lächelte in die Kamera. Neben uns standen rechts und links Jeremy und Valentin und machten Grimassen. Wir sahen aus wie die perfekte unperfekte Familie und genau so waren wir auch. „Du vermisst sie. Oder?" Ich zucke leicht zusammen, als meine Oma zu mir kommt. „ Ja, jeden Tag mehr und mehr." „Ich weiss es, man sieht es dir an. Ich bin sehr erschrocken als ich dich sah, nicht wegen der Kleidung, die passt mir besser als diese Pastelltöne, aber wegen deinen Augen, die haben früher meterweit gestrahlt und heute sieht man es nicht mal mehr wenn man vor dir steht. Aber keine Angst ich werde dieses Strahlen zurück holen, koste es was es wolle!" Mit diesen Worten schwingt sie das Besteck, dass sie in der Hand hält umher. „Ah, und Spätzchen? Ich habe dich auf einer tollen Schule ganz in der Nähe angemeldet." „Ah wirklich, weißt du, wo die Jungs zur Schule gehen?" „Nein, meine Kleine, leider nicht. Aber ich will dich nicht ganz enttäuschen, ich habe mich informiert und es ist die einzige Schule im Umkreis, die ein eigenes Fußballteam hat. Also falls sie überhaupt noch hier sind, könnte es gut passen. Willst du sie den überhaupt schon sehen?" „Mhh, keine Ahnung." Ich weiss es wirklich nicht. Sie fehlen mir extrem, aber sie haben mich auch einfach zurückgelassen. Wie es aussieht, habe ich noch zwei Tage um zu überlegen wie ich reagieren würde, falls sie tatsächlich in meine Schule gehen.

Rose, aber Rosalie für euch! Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt