Zweites Kapitel - Schreie

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"Ist das dein beschissener Ernst?" Okay, anscheinend war es doch keine so gute Idee einfach abzuhauen, um die Nacht mutterseelenallein im Wald fast zu erfrieren. "Schrei mich nicht an!", Wimmere ich. Ich schaffe es gerade noch an meinem Bruder vorbei, Streife ihn jedoch an seiner Schulter. "Hast du gesoffen? Hey! Ich rede mit dir, Fräulein! Du stinkst, du musst gesoffen haben!" Bingo! Er scheint wohl nicht gemerkt zu haben, dass es mich sonderlich wenig interessiert, dass er schreit. Ich habe keine Angst vor ihm. Arschloch.
Ich schlendere in mein Zimmer, meine Jacke lasse ich zu Boden fallen, hole Unterwäsche und gehe ins Bad, wieder vorbei an meinen Bruder. "Du wirst das so bereuen, glaub mir! Du wirst dir wünschen nie Geboren zu sein!", schreit er mir hinterher. Er ist ausgezogen, lebt sein Leben mit seiner Frau und hat sich seine eigene Familie aufgebaut, glaubt aber dennoch mir etwas vorschreiben zu können. Er ist ausgezogen, weil die Frau von meinem jüngeren Bruder schon bei meinen Eltern bleiben würde. Was für ein Feigling. Damals hatte er auch gesagt, dass er von nun an ein "Mann" sei, um seine Frau Sorgen müsste und sich beweisen müsste. Ein Test sei das, hatte er gesagt. Kann nicht oft genug sagen, was für ein Idiot er ist. Ich höre wie die Eingangstür geöffnet wird und nehme die Stimme meines Vaters wahr: "Ist sie wieder zurück? Die Nacht draußen ist kalt, hat dieses kleine Biest wohl gemerkt, nicht?" Und meine Mutter antwortet: "Sie weiß nicht, dass ich sie garnicht Frage. Morgen werd ich den msit (Vermittler) anrufen und der soll alles vorbereiten. Das kann so nicht weiter gehen. Sie muss was ändern ... Wir müssen etwas ändern!" Darauf hin werden die Stimmen leiser, sie müssen wohl ins Wohnzimmer gegangen sein. Ja, das war nicht das erste Mal, dass es soweit gekommen war. Ich meine, seit ich denken kann, gibt es dieses Vermittler-Heirats-Ding und ich bin Mitten drin! Ich nehme eine warme Dusche und merke, dass mein Körper übersät von blauen Flecken ist und kleinste Berührungen wehtun. Es war wirklich keine gute Idee.
Angezogen will ich mich auf dem Weg in die Uni machen, meine Haare sind zwar noch nass und ich bin ungeschminkt, das kümmert mich dennoch sonderlich wenig. Ich bin sowieso ein Wrack, das einen Jungen heiraten muss, den sie nicht kennt. Meine Eltern beschimpfen mich, meinen, dass ich eine Schande sei und froh sein kann, dass mich überhaupt wer will! Ich ignoriere sie, und verlasse die Wohnung.

Die Vorlesungen sind zu Ende, ich habe nichts mitbekommen, mein Kopf dröhnt, mein Hals schmerzt Und meine Brust zieht sich zusammen, als würde in ihr ein Löwe seine Krallen einhacken. Es tut höllisch weh.
Auf dem Weg nachhause wird mir plötzlich übel, ich taumle zu einer Bank lasse mich hier nieder. Es war definitiv keine gute Idee im Wald zu frieren. Ich atme konzentriert, versuche meinen Blick zu fokussieren, dieser verschwimmt, wird aber wieder scharf. Restalkohol? Was ist los mit mir? Schweißperlen Tropfen meine Stirn herab, ich muss mich übergeben. "Hey alles okay?" Ich sterbe. Nein, ich sterbe nicht, dazu tut es viel zu sehr weh. Sterben soll befreiend sein. Ich fliege, ich schwebe und ich lande. Knallhart auf dem Betonboden, der so schön kalt ist. Meine Umgebung nehme ich nur gedämmt wahr. Ich sehe Füße, Lichter, höre verschwommen Menschen. Sie sind so weit weg. Ich werde aufgehoben, meine Augenlieder sind so schwer. Sie sind so schwer, wie als würden sie Tonnen wiegen, ich kann sie nicht mehr halten. Und mein Kopf rutscht zur Seite und meine Seele rutscht in die Ferne. Arividerci.

In der Welt, die zwischen dem Leben und dem Tod ist, hört man nichts, sagt man. Ich höre viel. Ich nehme viel wahr, Schreie. Überall Schreie, und es ist dunkel. Meine Ohren Rauschen, das Geschrei wird immer lauter und lauter, mein Verstand wird geraubt. Wo bin ich? Wieso bin ich so schwer? Wieso kann ich mich nicht bewegen. Ich spüre, wie das Atmen immer leichter wird, die Schreie sich entfernen und mein Blickfeld sich erhellt. Ich blinzle, sehe aber nur Licht, ganz grelles weißes Licht.
"Frau Asani, Sie sind wach!"
Wer ist diese Stimme? Wo bin ich?
"Willkommen zurück, Frau Asani! Schön, dass Sie wieder bei uns sind. Ich werde Ihre Eltern herein bitten, da Sie nun ansprechbar sind!" Nein! Halt! Ich will nicht, meine Eltern verstehen das nicht! Ich bin die Schande.
Ich höre, wie die Tür geöffnet und wieder verschlossen wird, dem Geruch nach zu urteilen muss ich wohl im Krankenhaus sein. Ich versuche langsam meinen Kopf zu heben, ohne Erfolg. Wieso schmerzt alles so schrecklich?
"Elma, bist du endlich wach! Du hattest einen Kreislaufzusammenbruch dein Herz hat langsamer geschlagen und durch den Restalkohol wurde alles nur bestärkt. Außerdem hast du eine Lungenentzündung. Kommt davon, wenn man nicht auf die Eltern hört!", höre ich die Stimme meines Vaters sagen. Ich möchte schreien. Ich möchte schreien, wie die Schreie in meinem Traum. War es ein Traum? Ich möchte Fliegen, weit weit weg! "Es tut mir leid.", mehr bringe ich nicht über meine Lippen. "Sollte es auch. Wir haben schon alles vorbereitet, sobald du hier raus bist, gehst du mit Besim und seinen Eltern einen Ring aussuchen. Du bist offiziell verlobt, er hat zugestimmt. Es gibt keine andere Möglichkeit für uns, es musste so sein, sonst wirst du nie vernünftig. Wir wollen nur das Beste für dich!" Mama. Ich sehe, wie sich Tränen in ihren Augen sammeln. Sollte ich böse auf sie sein? Sollte ich böse auf meine Eltern sein? Ich bin müde.
"Ich will schlafen.", krächze ich.
"Ist gut. Du solltest ausgeruht sein für deinen großen Tag.", sagt meine Mama, sie versucht nicht zu weinen. Und sie gehen, ohne Verabschiedung ohne Umarmung. Und ich schließe meine Augen und drifte wieder davon.

Mein LichtblickWo Geschichten leben. Entdecke jetzt