Siebzehntes Kapitel - Gebrochen

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"Am Nachmittag!!" Ich schreie regelrecht durch das Haus. "Sie hat mir keine Uhrzeit genannt, aber ich denke, so gegen 14 Uhr wird sie dort sein! Und jetzt stress mich nicht so!" Ja, meine beste Freundin kann ziemlich nervig sein. Alles, was mich betrifft will sie genauestens wissen. Seit einer Stunde ist sie nicht zufrieden mit meinem Outfit, kritisiert, und meint, ich müsse mich für Elma zurechtmachen. Ich bin da anderer Meinung, das weiß sie auch. Trotzdem kommandiert sie mich herum. Sie darf das. Sie kennt mich halt am besten. "Ja okay, Mister 'Ich-bin-jetzt-verlobt-und-deshalb-etwas-besseres', dann zieh dich doch wenigstens besser an, anstatt nur einen Pullover und ne Jeans. Putz dich doch mal raus!!" Ich lache laut auf. "Wie soll ich das schaffen, wenn du mich so stresst. Außerdem, wir treffen uns im Park, da wird sie nicht großartig sehen, was ich anhabe, Fräulein!" Sie schnauft, schmeißt sich auf mein Bett und ich haste ins Bad, wieder in mein Zimmer, wieder ins Bad und dann bin ich endlich fertig.
"Sehr gut! Warte, ich richte dir deinen Schal!" Egi kommt näher und ich spüre wieder diese Vertrautheit. Seit Jahren weiß ich, dass sie mehr will, als nur Freundschaft, seit Jahren versucht sie vergeblich mir zu gefallen und seit Jahren blocke ich ab. Nicht weil ich sie nicht mag, oder weil es nicht passen würde. Es geht aus dem einfachen Grund nicht, weil sie katholisch ist. Ich als Moslem, sie als Katholikin, das sind zwei Paar Schuhe. Es ist einfach nicht möglich, deshalb habe ich Gefühle nie zugelassen. Sie sieht mir kurz in die Augen und dann blickt sie hinunter. Ich spüre, dass sie verletzt ist, ich sehe, dass sie sich sehr beherrscht. "Geh und erobere sie!", flüstert sie, bevor sie mich in eine warme Umarmung schließt. Und irgendwie fühlt es sich an, wie ein Abschied.

Im Park angekommen, setze ich mich auf die Sitzbank, auf der Elma immer sitzt. Ich sehe mich um, kann sie aber weit und breit nicht sehen. Ich schreibe ihr eine kurze Nachricht und als sie antwortet, dass sie erst in einer halben Stunde da sein wird, beschließe ich meinen kleinen Engel zu besuchen.
Ich betrete den Friedhof und mir kommt es vor, als wäre es gestern gewesen. Der Tag, an dem meine Schwester, wegen einem alkoholisierten Arschloch sterben musste. Der Tag, an dem wir die durch das Friedhofstor trugen. Der Tag, an dem wir sie mit Erde bedeckten und mit ihr einen Teil von mir. Ich schließe die Augen, und obwohl ich mich nicht erinnern möchte, tu ich es trotzdem. Es war vor fast 2 Jahren, ich saß im Auto und schrie, dass sich alle gefälligst beeilen sollten. Marigona war erst 15 und somit noch eine heranwachsende Jugendliche. Meine kleine Gona, wie ich sie vermisse. Wir wollten alle zusammen nach Köln zu meiner Tante, und da die Fahrt mehrere Stunden dauern würde, mussten alle viel einpacken. "Gona, wenn du nicht mitkommst, dann fahre ich halt ohne dich!", schrie ich.
Ein Windhauch lässt meine Haut erschaudern und ich öffne meine Augen. Ich grinse und spüre in gewissen Maßen ihre Anwesenheit. Wieder schließe ich die Augen und die Szene erscheint vor mir.
"Ich muss noch duschen, Besim! Ich fahr mit Papa, ti nisu!(du fahr schon)", grinste sie aus dem Fenster. "Marigona, bitte, lass mich nicht alleine fahren! Komm hinunter, ich kauf dir unterwegs ein Trockenshampoo!", schrie ich ihr hinterher und sie lachte und Minuten später stieg sie in mein Auto. Sie kniff meine Wange und grinste: "Weil ich dich so lieb hab, komme ich mit! Aber ein Trockenshampoo krieg ich noch!" Wir lachten und ich fur los.
Ich zucke zusammen, als mich jemand an der Schulter berührt. Ich drehe mich um und erblicke Elma, sie hat einen weichen Blick und ihr Lächeln ziert ihr Gesicht. Sie breitet ihre Arme aus und ohne zu überlegen lasse ich mich ihn ihnen fallen. Jetzt bin ich dran. Jetzt sieht sie mich zerbrechlich. Und ehrlich gesagt, es macht mir nichts aus.

"Hallo, Du!", flüstert sie. Ich schweige. Ich frage mich, woher sie wusste, dass ich hier bin, Ich frage mich, woher sie wusste, wo Gonas Grab ist. Sie wischt mir die Tränen vom Gesicht und hält es fest in ihren Händen. Dann sagt sie etwas, womit ich nicht gerechnet hätte. "Jetzt darf ich es, jetzt ist es erlaubt. Jetzt gehöre ich dir und du mir. Jetzt darf ich das." Sie nähert sich meinem Gesicht und küsst meine Lippen. Es ist ein vorsichtiger Kuss, den ich erwidere, der mir gut tut. Langsam löse ich mich von ihrem Kuss und sehe sie an. Ihre Haare stehen ihr in alle Richtungen ab, ihre Nase ist rot und ihre Augen haben Schatten, dunkle, tiefe Schatten. "Gehen wir?", frage ich sie unsicher, worauf sie nickt und wir uns auf den Weg aus dem Friedhof machen. Ich drehe mich nicht mehr um. 

Im Park angekommen setzen wir uns auf die Parkbank. Wieder sammeln sich Tauben um uns und Elma zieht eine Tüte Körner aus ihrer Tasche. Wieder füttert sie die Tauben und reicht mir die Tüte, damit ich es ihr gleich tue. Sie grinst mich an.
"Willst du mir über deine Schwester erzählen?"
Ich schweige, ich würde gerne wieder über sie reden. Seit ihrem Tod haben wir ihren Namen nicht in den Mund genommen aus Angst, Mutter würde wieder einen Zusammenbruch erleiden.
"Was willst du wissen?" Sie lehnt wieder an meiner Schulter, wie an Tag eins und atmet tief ein und aus.
"Wie war sie so als Person? Was hat sie gerne gemacht? Wie war ihr Charakter?"
Ich grinse, lege meinen Arm um Elma und streichle ihren Rücken entlang. Sie ist so fremd und doch so vertraut. Ihre Aura tut mir gut.
"Sie war eine tolle Person. Ich denke, du hättest sie gemocht! Sie war lustig, extrovertiert und manchmal sogar eine ziemliche Nervensäge. Jedes Mal hat sie auf mich warten müssen, wenn wir was unternommen haben. Weil ich so ein lahmer war. Nur dieses Mal, nur dieses eine Mal musste ich auf sie warten.." Ich schlucke und Elma hält meine Hand.
".. ich musste auf sie warten, weil sie duschen wollte. Aber ich war ungeduldig. Ich war so ungeduldig und sie stieg ein. Sie stieg ein in mein Auto.." Ich merke, wie meine Stimme bricht, und mit ihr ein Teil von mir.
"Du musst nicht weiter reden..", flüstert Elma.
"Ich will aber.. Ich muss.. sonst drehe ich durch.." Ich greife mir auf meinen Hinterkopf, tue ich, wie sonst auch, um Zeit zu sparen und lehne mich dann nach vor, um mich auf meine Knie zu stützen.
"Es war meine Schuld, hätte ich sie nicht gezwungen mit mir zu fahren, wäre es nicht passiert. Dann hätte nur ich den Unfall erlebt.. Ich bin Schuld.." Mein Herz zerreißt, ich blicke Elma an, diese wirkt distanziert, zeigt keine Emotionen. Ich merke, dass ich überall zittere, und streiche über mein Gesicht. Plötzlich spüre ich Elmas Hand auf meinem Rücken.
"Lass uns gehen..", flüstert sie mir zu und ich nicke und wir machen uns auf den Weg. Das Einzige, das bleibt, ist der Schmerz.

Ich begleite Elma noch zu ihrer Haustüre. Die ganze Autofahrt lang hatten wir geschwiegen. Ab und zu hielt ich ihre Hand, weil mich das aufbaut. Ab und zu drückte ich ihr einen Kuss auf ihre Hand, weil sie mich stärkt. Ich blicke in ihre Augen und kann ihr so ein schmales, zartes Grinsen entlocken. Sie umarmt mich und ich drücke sie ganz fest, damit sie die Teile, die zerbrochen sind festhalten kann.
"Du erdrückst mich, Junge, ich krieg keine Luft!!"
Ich lache und sie auch.
"Bis dann du verrücktes Huhn."
"Bis dann du verrückter Affe."
Sie blickt mir in die Augen, unsere Gefühle vermischen sich mit unserem Atem und ein sanfter Kuss ist das Ergebnis. Das Ergebnis unserer sichtbar  gewordenen Zuneigung.

Mein LichtblickWo Geschichten leben. Entdecke jetzt