Zwölftes Kapitel - weiße Nacht

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Ich gebe mich voll und ganz meinen Sinnen hin, ignoriere dabei, dass ich gerade mit einem eigentlich Fremden in seinem Haus in seiner Küche wie wild herumknutsche und lasse mich einfach gehen. Ja, ich habe es vermisst, ja es ist lange her. Ardit ist seit einem Jahr tot und ich bin immer noch nicht hinweg. Ich vermisse und liebe ihn. Trotzdem fühlt es sich verdammt nochmal gut an, so begehrt zu werden. Und diesmal fühlt sich dieser Fremde gut an. Diesmal erinnert er mich nicht an den zerbrechlichen, zarten Ardit, nein. Er ist grob, heiß und schnell. Das mag ich. Langsam gleite ich mit meinen Händen zu seinem Shirt und ziehe es ihm über seinen Kopf. Dabei kommt sein trainierter Körper zum Vorschein, ich klammere mich an seinen Rücken. Er grinst. Wie ein Äffchen klammere ich mich mit meinen Armen und Beinen um ihn und er trägt mich hinauf in sein Zimmer. Hinauf in sein Zimmer und hinein in sein Bett. Er liegt sanft über mir und ich spüre seine Hände an meinem Oberschenkel, er hebt ihn leicht an, küsst mich ununterbrochen. Es überkommt mich ein Gefühl von Sicherheit, ich habe keine Angst mehr. Er hält kurz inne und sieht mich an.
"Was machen wir?"
"Ist doch scheissegal."
Ich ziehe ihn wieder zu mir, will ihn küssen, er blockt jedoch nach wenigen Sekunden ab.
"Nein, nein, nein."
Er steht auf, ich liege da, mit zerzausten Haaren und geschwollenen Lippen, einer halb aufgeknöpften Bluse und fühle mich mies. Ich fühle mich nackt. Langsam ziehe ich die Decke an mich, er geht auf und ab und hat dabei die Hände in seinem Nacken verschränkt. Was ist nur los mit ihm?
"Das geht so nicht, Elma. Nein, das ist nicht ok was wir hier tun!"
Erst jetzt sieht er mich an. Er hat einen Blick, den ich nicht deuten kann. Dieser Blick von ihm ist mir neu.
"Aber ich.."
Ich lasse mich nach hinten fallen und seufze laut. Er verlässt das Zimmer und lässt mich mutterseelenallein zurück.
"... ich mag dich doch."
Ich wimmere und erschrecke über meine Worte. Ich packe mir ein Kissen, lege es über meinen Kopf und schreie so laut ich kann. Das Kissen dämpft meine Schreie und es tut so gut.

Nach wenigen Momenten mache ich mich auf den Weg nachhause. Besim scheint nicht zurückzukommen, also beschließe ich einfach zu gehen. Ich schäme mich für das, was passiert ist und ich muss an Ardit denken. Ob er wohl böse ist? Als ich die Tür zum verlassen seines Hauses öffne, merke ich, dass es schneit und eisige Kälte schüttelt mich wach. Meinen Schal konnte ich nicht finden, weshalb ich jetzt frieren muss. Dämlicher Tag. Dämlicher Besim. Dämlicher Kuss.

Zuhause angekommen, merke ich, dass niemand da zu sein scheint. Umso besser! Ich gehe in mein Zimmer und hole mir meine Zigarettenpackung. Dann verschanze ich mich auf den Balkon und rauche, eine nach der anderen, bis die Packung leer ist. Ich merke, dass ich müde bin, lehne mich zurück, genieße die Kälte und nicke ein.

"Aufstehen du Schlafmütze!"
Wie bin ich in mein Bett gekommen?
"Schrei doch nicht so!"
Meine beste Freundin Steffi steht vor mir, draußen ist es bereits hell und ich scheine gestern den gesamten Tag und die gesamte Nacht verpennt zu haben.
"Nur weil du so faul bist, musst du nicht gleich alle Vorlesungen Schwänzen!"
sie öffnet das Fenster und ich merke, dass die Sonne strahlt. Ich Lächel und hoffe, dass das gestern doch nur ein Traum war.

"Irgendetwas ist doch mit dir!"
Steffi kann einfach nicht anders. Sie möchte alles wissen, was wie wo wer in meinem Leben treibt. Sie ist von Natur aus eine Neugierige.
"Ach nichts, will nicht darüber reden."
Ich denke, es wäre besser so. Besim hat sich seit dem Vorfall nicht gemeldet und ich? Ja ich melde mich sicher nicht.
"Du hast jemanden kennengelernt, stimmts? Man sieht es dir an. Du bist so...ruhig. Und launisch. So warst du nur, wenn..."
Sie macht eine Pause, ich schaue sie an.
"Schon gut. Ich weiß. Aber ich kann momentan nicht darüber reden." Ich konzentriere mich wieder auf die Vorlesung und Steffi tut es mir gleich. Ich bin ihr dankbar.

Nach der Vorlesung beschließen wir in die Mensa zu gehen und Mittag zu essen. Steffi erzählt mir von einem Typen, den sie auf Facebook kennen gelernt hat, und ich höre ihr zu, schweife aber immer wieder mit meinen Gedanken ab.
"Hallo, Steffi an Jupiterkopf Elma.. Sag mal, hörst du mir überhaupt zu? Ne, oder?", sie schnipst mit ihren Fingern vor meinem Gesicht und ich zucke leicht.
"Ja doch. Kein Grund gleich einen Herzinfarkt bei mir auszulösen." Ich werde nervös.
"Hallo? Ich rede mir da den Mund wund und Madame besitzt nicht mal die Güte auch nur ansatzweise zuzuhören. Benimmst dich voll komisch! Ich merke das." Sie zwinkert mir zu und ich erröte. Sie stößt meinen Arm und ich lache laut. Sie stimmt meinem Lachen ein und wir machen uns auf dem Weg nachhause. Immernoch kein Lebenszeichen von Besim. Obwohl ich im Minutentakt auf mein Handy schaue, in der Hoffnung eine Nachricht von ihm zu bekommen, kommt von ihm nichts. Ich werde traurig und mich überkommt ein Gefühl des Alleinseins. Wieder verliere ich jemanden. Wieder fühle ich mich mies. Nur diesmal hab ich es zugelassen, dass er mir nahe kommen konnte. Ich verabschiede mich von Steffi, schließe meine Wohnungstür und höre Stimmen vom Wohnzimmer. Ist ja super, Mister ich bin zu cool für diese Welt, mein großer herzallerliebster Bruder ist mit seiner ach so sympathischen Frau Göre zu Besuch. Ätzend. Ich begebe mich ins Wohnzimmer und begrüße alle.
"Schau an, unsere studierte. Das Studium scheint dir alle Farbe aus dem Gesicht genommen zu haben, Farbe könnte dir nicht schaden!" Ich hasse meinen Bruder. Vielleicht liegt das daran, dass ich fast verreckt wäre, fast eine Woche im Krankenhaus gelegen bin und du dir zu fein warst mich anzurufen, geschweige denn mich zu besuchen? Arschloch. Ich grinse ihn an und schweige. Wie immer.
Nach einer Zeit kommen sie auch zum eigentlichen Thema. Mich hat eh gewundert, warum diese Person zu uns kommt. Er ist meistens nur da, wenn er etwas braucht, oder sich in mein Leben einmischt.
"Ich habe mit der Familie vom Jungen geredet. Sie werden morgen kommen und die Verlobung wird stattfinden. Heute sind sie aus dem Kosovo zurück. Kismet (wie übersetzt man das?), morgen wird sie verlobt sein."
Sie reden über mich, als wäre es das normalste. Niemand kommt auf die Idee mich zu fragen. Vielleicht, ob ich Zeit habe. Vielleicht, ob ich Lust habe, nein. Sie entscheiden als wäre ich ein Spiel. Eine Sache, die man hergibt, weil sie eine Last ist. Ich stehe auf und gehe in die Küche, wo meine Schwester sitzt.
"Morgen also." Sie grinst mich an. Ich nicke.
"Du wirst wunderschön sein." Sie steht auf und geht ins Bad. Ich glaube, sie weint.

Als mein Bruder geht, ist es schon Nacht. Er verabschiedet sich bis morgen, und ich bin froh ihn nicht mehr sehen zu müssen. Er hat mich damals so verletzt, als Ardit und ich Unterstützung brauchten, hat er uns mit Füßen getreten. Deshalb hasse ich ihn. Ich packe meine Geldtasche, meine Jacke, einen Schal und verlasse die Wohnung. Die Frage von meinem Vater, wohin ich will ignoriere ich. Ich will einfach nur weg. Einfach verschwinden, in der weiten, weißen Nacht.

Mein LichtblickWo Geschichten leben. Entdecke jetzt