Ich zittere. Obwohl mir nicht kalt ist und ich zugedeckt bin und mich an seine Brust geschmiegt habe, zittere ich. Er hält mich fest und plötzlich macht alles einen Sinn. Ich hatte so lange auf ihn gewartet, genauso, wie er auf mich gewartet hatte. Und jetzt? Hat er mich gefunden, lebt für mich und stirbt für mich. Er hält mich. Das Leben wird besser, wenn er bei mir ist, denn was von meinem Leben übrig ist, kann nur noch mit ihm interessant werden. Er schläft. Er ist binnen Sekunden eingeschlafen und ich streiche über seine Brust.
Ich war nie verrückt. Ich hatte es nur nie zugelassen, dass mein Herz in einem Käfig gefangen war. Ich war wild geboren, braucht die Welt Menschen wie mich? Braucht sie Menschen, die so eine tiefe Trauer in sich tragen, die das Feuer in anderen ausmachen? Ich lehne an seiner Brust und höre seinen Herzschlag. Er geht rhythmisch und gleichmäßig. Und im Moment fühlt es sich so an, als würde ich innerlich sterben. Aber in Wahrheit ist es so, dass ich die dunkelsten Teile meiner Vergangenheit verdrängen will, sodass etwas Licht, das ich verschlossen habe, bis in meine Seele scheinen kann. Vielleicht auch Raum findet, sich mit seiner Seele zu verbinden und unsere Seelen zu vereinen. Ich sehe zu ihm hoch. Sein Mund ist geschlossen, seine Augen auch. Sein Bart ist gestutzt und sein Atem geht gleichmäßig, mit ihm hebt sich seine Brust, und mit ihr hebe ich mich. Vielleicht bin ich etwas melancholisch, vielleicht auch wegen der ganzen Tabletten, die ich geschluckt habe, etwas verwirrt. Aber mich überkommt ein Gefühl von Angst. Er ist mir so nah. Er hat mich verwundet gesehen. Er kennt mich. Er könnte es ausnutzen. Das kommt mir immer wieder in meinen Gedanken. Ich lehne mich wieder vorsichtig an seine Brust und schließe meine Augen. Ich lausche seinem Atem und genieße seinen Duft. Er riecht so gut, nach Meersalz und Sonnencreme. Nach Mann. Langsam drücke ich ihm einen Kuss auf seine Brust. Er schmeckt süß, salzig und spannend. Ich platziere meine Wange an die Stelle, die ich geküsst habe, und merke, sein Herzschlag geht schneller. Ist er wach? Ich streiche ihm über seinen Bauch, er ist trainiert. Es wäre so schön die Gefühle einfach zuzulassen. Aber etwas ganz tief in meinem Herzen sagt mir, ich sollte es beschützen. Also werde ich es nicht tun. Vielleicht hat er ja garkeine Seele, vielleicht ist er garnicht gut für mich. Und er tut mir leid, denn es sind die Momente wie diese, die am meisten zählen. Momente, in denen du dich über die Wolken und Berge zu den Göttern stellst. Momente, in denen du verstehst, wie gut du bist. Und wie manche Menschen diese Güte nicht verdienen. Wie deine eigene Familie diese Güte nicht verdient. Ich will diese Erkenntnis in meinem Gedächtnis speichern, doch dann kommen wieder diese Gedanken. Ich will sie speichern, für später, wenn ich Entscheidungen treffen muss, die wichtig sind. Das würde dann den Unterschied zwischen dem Leben und dem Tod machen. Aber es geht nicht. Ich kann es nicht. Denn die Erinnerungen sind zu stark.Ich saß am Balkon, hörte nur, wie mein Bruder schrie.
"Diese miese Schlampe! Sie hat es nicht anders verdient! Sie ist doch mit dem Junkie durchgebrannt! Sie ist doch diejenige, über die gesprochen wird! Wo ist sie?"
Ich mache mich ganz klein, versuche nicht aufzufallen. Meine Schwester und mein Bruder verpfeifen mich schon nicht.
"Sie spritzt sich sicher etwas am Balkon! Würd ihr ähnlich sehen, bei dem Junkie!"
Ardit war kein Junkie. Er war immer der beste Teil der vergessenen Orte, die ich liebte. Er war nicht wie die anderen, aber das war gut so. Er nahm Tabletten, weil er psychisch ein Wrack war, wie ich. Was willst du für eine psychische Verfassung haben, wenn du mit so jungen Jahren Krebst diagnostiziert bekommst? Und wenn du weißt, egal wie sehr du wegen der Chemo leidest, du wirst sterben. Und du wirst deine Geliebte zurücklassen. Da sind Schlaftabletten und Antidepressiva schon ok. Mein Bruder verstand das nicht ganz. Deshalb schrie er auch im Moment herum. Versuchte mich zu finden. Mich zu verprügeln. Ich war die Schande. Die, die mit einem krebskranken fast durchgebrannt wäre. Ich hätte es gemacht. Ardit war nur viel zu schnell. Er hatte viel zu schnell den Zug erwischt und ich konnte nicht hinterher. Ich gehe langsam aus dem Balkon.
"Was willst du?"
"A, da bist du! Wo ist er?"
"Geht dich nichts an.."
Ich hörte mich kleinlich an, ängstlich und einfach nur schwach. Ich wusste ja selbst nicht, wo er war.
"Du miese kleine dreckige..."
Und schon zerrte er an meinen Haaren. Sein Blick war hart, sein Griff fest, die Schmerzen echt.Ich öffne die Augen. Besim schläft immer noch. Ich sehe auf die Uhr, die gegenüber vom Bett hängt und es ist kurz nach 9. Ich streiche ihm über sein Gesicht, da wir bald gehen müssen. Er schrickt kurz zusammen, dann öffnet er langsam und blinzelnd seine Augen. Ich genieße diesen Augenblick. Er sieht so friedlich aus.
"Guten Morgen."
"Morgen, warum bist du schon wach?"
Seine Stimme klingt verschlafen. Er klingt einfach nur gut. Und wenn es nicht so hell ist, wie jetzt, sind wir nicht mehr, als zwei nackte Menschen, die versuchen sich zu lieben.
"Wir müssen gehen. Ist schon neun."
Ich flüstere. Ich klinge schwach.
"Ich will nicht..."
Er drückt mich fest an sich und küsst meinen Scheitel. Mich Überkommt ein Gefühl, es Stechen ganz tief in der Brust. Es ist kurz, dauert nicht lange. Dennoch macht es mich neugierig auf mehr.
"Dann bleiben wir im Bett. Müssen dann aber für heute auch buchen."
Er gähnt.
"Ja, keine schlechte Idee!"
Er hebt mein Kinn mit einer Hand, sodass ich von seiner Brust aus direkt in sein Gesicht Blicke. Seine Augen funkeln und er grinst.
"Hallo, du!", seine schneeweißen Zähne kommen zum Vorschein.
"Hi."
Und dann liegen auch schon seine Lippen auf meinen. Ich erwidere den Kuss. Es ist ein kurzer aber dennoch sehr intensiver, denn das Stechen ist jetzt wieder da. Und es bleibt diesmal länger.
"Du hast bestimmt Hunger!"
Ich nicke.
"Ich bestelle uns was, dann können wir zusammen im Bett frühstücken."
Ich nicke wieder. Und er greift zum Hörer und bestellt etwas während ich noch an seiner warmen Brust liegen darf. Er wärmt mein kaltes Ich, er beschützt es.Nach ein paar Minuten ist unser Essen auch schon da. Ich habe keinen Hunger, trotzdem esse ich etwas. Wir sitzen im Bett, er sitzt mir gegenüber, genau wie damals, als es mir dreckig ging. Er lächelt mich an. Ich lächel gezwungen zurück.
"Ist was?"
"Du bist wunderschön, Elma. Ich weiß nicht, ich hab einfach Angst."
"Wovor?"
"Dass ich es verkacke. Das kann ich gut. Ich will dir nicht wehtun, ich will dir ein schönes Leben bieten. Ich will dich glücklich machen, ich hab einfach Angst, dass das nicht klappt."
Er schaut mir tief in die Augen und ich merke, er ist ehrlich. Seine Augen sind so schön, man sagt Augen sind das Tor zur Seele. Das kann ich nur bestätigen.
"Wieso solltest du verkacken?"
"Elma.."
Er sieht weg, ich werde unsicher.
"Dass du besonders bist, das ist nichts Neues. Und ich weiß nicht, ob ich damit umgehen kann, so wie du es willst. Ich weiß nicht, ob ich dir das bieten kann, was du willst. Ich weiß nicht, ob ich dich dazu bringen kann, dich in mich zu verlieben."
Ich grinse.
"Hör mal Besim..."
"Nein, du hörst mir jetzt mal zu. Ich weiß nicht, was dir passiert ist. Ich weiß nicht wieso du so bist, wie du bist. Ardits Tod ist sicher nicht der Grund dafür.."
"..doch.."
Ich klinge unsicher. Er hat mich durchschaut.
".. Elma. Nein. Bitte, mach es dir und mir nicht so schwer. Ich möchte dir helfen hörst du? Und wenn du nicht offen bist, werde ich immer Angst um dich haben. Und das will ich nicht.."
Ich bekomme einen Stich, einen Schmerz, ein Gefühl von Enge in meiner Brust. Ja, er hat mich durchschaut.
"Ich werde dir davon erzählen. Aber bitte nicht heute, okay?"
"Elma, du bist, nachdem ich dich zusammengeschrien habe, auf den Boden geknallt. Du hattest einen Nervenzusammenbruch. Du weißt nichts davon, und ich? Bin die ganze Nacht vor Sorge am Balkon gestanden. Ich will dich doch nur verstehen.."
Er tut mir leid. Es ist unfair von mir so mit ihm umzugehen. Es ist unfair ihm die Wahrheit zu verschweigen.
"Besim.."
Ich komme ihm näher. So nahe, dass es mir Angst macht, er merkt es, jedoch ignoriere ich die Angst. Ich sehe ihm in die Augen.
"Wovor hast du Angst, Elma?"
"Pschht.."
Ich halte ihm meinen Finger an seine Lippe und küsse ihn kurz darauf.
"Ich habe Angst verletzt zu werden. Ich habe Angst zu vertrauen. Ich habe Angst vor Bindungen und ich habe Angst vor Aggressionen. Ich.. Besim, manchmal, da habe ich auch Angst vor dir.."
Sein Blick verändert sich, er wird weich und warm. Er ist warm.
"Aber warum?"
Ich zittere.
"Weil.. weil ich viel erlebt habe. Und nun einfach alles mich einzuholen droht."
"Verstehe.."
Er fragt nicht näher nach. Ich bin ihm dankbar.
"Aber nun bin ich da.. du kannst mir vertrauen.."
Und dann küsst er mich, schiebt mich nach hinten, sodass ich auf dem Kissenhaufen liege und mich gehen lasse. Ich lasse mich gehen und er lässt sich gehen. Unsere Körper sind im Einklang und unser Atem geht regelmäßig. Mein Herzschlag beschleunigt sich und seine Berührungen sind sanft. Er ist sanft.
"Ich werde dich vergessen lernen.."
Und dann passiert es. Er zieht sein Shirt aus und meine Bluse auch, küsst mich überall, und unsere Welten vermischen sich. Ich spüre ihn, er spürt mich und dann fragt er mich etwas ungewöhnliches.
"Bereit?"
Und ich antworte noch ungewöhnlicher, unüberlegter und dümmer.
"Ja."
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Mein Lichtblick
Romance"Klar. Ich lebe. Vielleicht ist ja das der Sinn. Einfach Leben, ohne großartige Gedanken zu verschwenden, wieso wir denn genau das tun sollten, was man von uns verlangt. Wieso wir denn jetzt genau so leben, wie es uns vorgelebt wird. Oder doch vorge...