Kapitel 6 - Das Warten hat ein Ende

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Kapitel 6

Es war bereits eine Woche her, dass ich die Bewerbung abgeschickt habe. Meine Mutter wusste immer noch nichts. Absichtlich natürlich, denn ich hatte Angst wie sie reagieren würde. Vielleicht wäre sie wütend, vielleicht würde sie sich freuen, vielleicht wollte sie mich dann tanzen sehen. Ich hatte keine Ahnung.

Ich wusste ja auch noch nicht einmal, ob ich überhaupt angenommen werden würde, also konnte ich die ganze Aufregung ja auch vermeiden. Denn irgendwie war es mir peinlich, wenn ich nicht angenommen werden würde, meiner Mutter aber schon alles erzählt hätte und sie sich vielleicht schon Hoffnungen gemacht hätte.

Ich hatte irgendwie keine allzu großen Hoffnungen. Meine Bewerbung war so spontan gewesen und das Video hatte ich mir noch nicht einmal abgesehen. Trotzdem war ich nervös und hasste dieses ganze Warten. Meine Mutter hatte mir zum Glück nichts angemerkt, so musste ich mir keine Lügen ausdenken.

Heute war der Tag der Beerdigung. Ich schaute mich im Spiegel an. Ein schwarzes Kleid mit schwarzen Ballerinas und dem Wetter nach zu urteilen, bräuchte ich wohl noch einen schwarzen Schirm. Warum musste auf Beerdigungen eigentlich alles schwarz sein und regnen? Das ließ die ganze Veranstaltung noch trister wirken und Beerdigungen waren ja wohl schon schlimm genug. Es war meine erste Beerdigung, ich musste bis jetzt zum Glück noch nie auf eine.

"Lamiya kommst du runter? Wir müssen los!" hörte ich meine Mutter rufen. Ich ging zur Tür heraus, schaltete das Licht aus und trottete die Treppe herunter.

"Hier bin ich Mama."

"Sehr gut! Nachher kommen wir noch zu spät!"

Wir stiegen ein und meine Mutter fuhr in Rekordzeit zur Kirche. Wir stiegen aus und die Gäste warteten schon alle geduldig vor der Kirche. Wir gesellten uns zu ihnen. Ich zu meiner allerliebsten Lieblingstante und meine Mutter zu ihrer Mutter.

"Na alles klar Lamiya?" begrüßte meine Tante mich. Sie versuchte meine Stimmung aufzuheitern, doch das würde heute niemand schaffen.

"Was glaubst du?" fragte ich verbittert.

"Es tut mir Leid..."

"Bitte nicht Ella. Das will ich nicht hören. Ich hasse das. Ihr seid schließlich nicht Schuld."

"Okidoki Lamiya, ich werde mich dran halten!" lachte sie und ich musste lächeln.

Da wurden die Kirchentüren geöffnet und es strömte die komplett schwarz gekleidete Menschenmenge in die Kirche und suchte sich einen Platz. "Hätte nicht wenigstens einer auch nur irgendein buntes Detail an sich haben können?!" murmelte ich vor mich hin, sodass ich mich niemand hören konnte. Meine Mutter, meine beiden Omas und Opas, meine Tante und ich saßen vorne in der ersten Reihe.

Die Orgel ertönte und der Sarg, den meine Mutter ausgesucht hatte, wurde herein getragen. Mir rollten die ersten heißen Tränen die Wange herunter, als meine Oma meine Hand griff.

Der Pfarrer fing an zu sprechen, dann meine Mutter und meine Tante und dann war ich an der Reihe. Ich hatte das nur mit meiner Tante und dem Pfarrer besprochen, damit ich meine Mutter überraschen konnte und ihr eine Freude machen konnte.

Ich stellte mich vorne hin und riskierte nur einen kurzen Blick von meinem Blatt. So viele Menschen. Der Blick meiner Mutter lag schwer auf mir.

Ich fing an: "Wir haben uns heute hier versammelt, um den Tod meines Vaters zu würdigen." Durchgehend rannen Tränen an meinen Wangen herunter. "Er sagte immer zu mir: "Wenn ich einmal sterben würde, wäre ich nicht traurig, wenn du nicht kommen würdest, Beerdigungen sind traurig und wenn du einen anderen Weg finden würdest, Abschied zu nehmen, würde mich das sogar freuen." Aber ich will gar kein Abschied nehmen! Ich will nicht Tschüss sagen, denn es heißt doch ein Mensch ist erst Tod, wenn er vergessen wird. Sonst ist er nur fern. Ich werde meinen Vater nie vergessen. Ich erinnere mich an meinen 4. Geburtstag. Ich bekam ein Fahrrad. Mein Vater brachte mir noch am gleichen Tag das Fahren bei. Er versprach mir mich die ganze Zeit festzuhalten, doch als ich mich umsah, stand er weiter hinten, rief mir zu und applaudierte. Doch ich fiel und schlug mir mein Knie auf, da ich mich umgesehen hatte. Ich erinnere mich, wie er im Krankenhaus meine Hand hielt, kurz vor meiner ersten Operation. Ich erinnere mich an meine Einschulung, als er weinte, weil er so gerührt war, als ich mit dem Kinderchor in der Kirche sang. Ich erinnere mich, als ich ihm erzählte, dass ich mich mit einem Freund treffen wollte und er mich wie eine Zitrone ausquetschte, bis er mich endlich gehen lies, weil es ja ein "gefährlicher" Junge war." Ich lächelte und guckte kurz hoch und sah meine Mutter an, die bitterlich weinte, doch als unsere Blicke sich trafen, lächelte sie auch kurz und sie hörte trotzdem gespannt meiner Rede zu. Sowieso weinte inzwischen der Großteil.

Ich fuhr fort: "Und obwohl ich mich nie verabschieden will und auch nicht werde, habe ich vielleicht meinen Weg gefunden, meine Liebe ihm gegenüber zu beweisen." Mittlerweile schluchzte ich auch hart, dass ich einfach tränenblind vom Podest stürmte, in die Arme meiner Mutter, obwohl ich eigentlich noch geplant habe, etwas anderes zu sagen. Ich hatte nicht bemerkt, wie es während meiner Worte schlagartig aufgehört hatte zu regnen und ein helles Licht durch das Kirchenfenster schien. Wir saßen wieder zusammen auf der harten Kirchenbank, als der Pfarrer noch einmal ans Mikrofon trat: "Vielen lieben Dank Lamiya, das hast du schön gesagt. Aber wenn sie doch nun mit uns nach draußen gehen würden."

Die Menge ging zum Grab doch ich setzte mich weiter weg auf eine Bank, zog meine Knie an, schlang meine Arme um meine Beine und legte meinen Kopf auf meine Knie. Ich weinte, bis ich nicht mehr konnte und erinnerte mich an die Worte meines Vaters: Wenn ich einmal sterben würde, wäre ich nicht traurig, wenn du nicht kommen würdest, Beerdigungen sind traurig und wenn du einen anderen Weg finden würdest, Abschied zu nehmen, würde mich das sogar freuen.

Ich musste einfach angenommen werden, ich musste einfach!

Von weiter weg sah ich, wie der Sarg in die Erde eingelassen wurde und meine Mutter sich in die Brust ihrer Mutter vergrub und weinte.

Schließlich führen wir zum Essen in ein Restaurant, aber es war schrecklich, da die Atmosphäre natürlich sehr angespannt war.

Doch schließlich durften meine Mutter und ich nach Hause. Wir kuschelten uns zusammen auf das Sofa und schauten Fern. Ein wenig später beschloss meine Mutter dann aber schlafen zu gehen und verschwand oben im Schlafzimmer. Ich schlich mich noch einmal heraus, um in den Briefkasten zu schauen. Mir fiel ein großer weißer Briefumschlag entgegen, der heute morgen noch nicht drin gewesen ist. Ich holte in mit zittrigen Händen aus dem Briefkasten und rannte nach oben in mein Zimmer. Ich setzte mich auf mein Bett und sah den Absender, ebenfalls aus Berlin.

Gespannt riss ich den Brief auf und las:

"Vielen Dank, dass Du Dich beworben hast! Bitte komme doch am 10. Juli 2013 um zehn Uhr vorbei. Wir freuen uns auf Dich! Du bist dabei!

Dein 'Got to Dance' Team"

Der Brief fiel mir aus der Hand und vor Schock, war ich wie erstarrt. Ich hatte es geschafft. ICH, LAMIYA BEL KAHLA, BIN BEI GOT TO DANCE EINGELADEN WORDEN!!! Würde ich es meiner Mutter schon sagen? Sollte ich sie wecken? Nein, beschloss ich. Glücklich schlief ich ein. Ich hatte die Beerdigung überlebt und war wenigstens so gut, dass ich zum ersten Vortanzen durfte und so meinem Ziel ein Stück näher war. Ich würde das schaffen. Ich musste das schaffen.

Danke fürs Lesen! ❤✨

Tanzen ist Träumen mit den FüßenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt