Hundertzwanzig Mal...

Never look back/ Schaue niemals zurück ( Verzögerter Tumor Teil 6- Ende )

PoV Manuel

Mit tränenverschleiertem Blick drehte ich den Umschlag in meinen Händen.
'Für Manuel' stand in verschnörkelter Schrift darauf.
Es war ein bisschen zittrig geschrieben worden, dennoch sah es wunderschön aus.
Ich saß schon die ganze Zeit nur hier, auf meinem Bett.
Unfähig irgendetwas zu tun. Unfähig diesen Brief zu öffnen, herauszufinden, was darin stand.
Es war kein Absender darauf, doch das war auch nicht nötig. Ich wusste es auch so...

Er war gestorben, drei Tage nach meinem Besuch.
Alles was mir jetzt noch von ihm blieb, war dieser Brief.
Drei Wochen hatte es gedauert, bis ich die Kraft gefunden hatte, ihn abzuholen.
Nun saß ich seit Stunden auf meinem Bett und hielt den Umschlag in den Händen, der nur darauf wartete geöffnet zu werden.
Aber ich konnte mich einfach nicht überwinden Darios Worte zu lesen. Seine letzten Worte an mich...

Wieder überkam mich ein Tränenschub, als ich an unsere erste und letzte Begegnung denken musste. Warum... Wieso hatte ich ihn erst so spät besucht?
Ich...hatte ihm versprochen...ihn nochmal zu besuchen... Ich hatte mein Versprechen nicht halten können.
Ich hatte versagt...
Immer wieder strich ich mit dem Finger über diese Worte 'Für Manuel'.
Was hatte er wohl gedacht, als er sie geschrieben hatte?
Ich versuchte, ihn mir dabei vorzustellen und schluchzte laut auf.
Warum...?!

Es half nichts, ich würde diesen Brief öffnen und diese Worte lesen müssen, die nur für mich bestimmt waren.
Mit zitternden Händen öffnete ich vorsichtig den Umschlag und zog die beschriebenen Blätter heraus.
Ich wollte das nicht, wollte nicht einsehen, dass das seine Abschiedsworte waren und ich danach nie mehr etwas anderes von ihm würde lesen können.
Hatte er gewusst, dass er mich kein weiteres Mal sehen würde...?
Langsam entfaltete ich die Blätter, holte noch einmal tief Luft und begann zu lesen.

'Lieber Manuel,
ich schreibe das hier direkt nach deinem Besuch.
So habe ich dich noch am besten vor Augen, kann mir vorstellen, wie du es irgendwann liest.
Ich möchte, dass du weißt, wie viel mir dein Besuch bedeutet hat.
Ich habe dir gesagt, dass es mein größter Wunsch war und das war keine Lüge.
Ehrlich gesagt habe ich wirklich das Gefühl, jetzt glücklicher sterben zu können.
Es war nicht richtig von mir, dich zu fragen ob du nochmal kommst. Ich weiß, dass du es nicht mehr vorher schaffen wirst.
Aber mir ging es um deine Antwort, ich wollte wissen, ob du es nochmal tun würdest.
Und du kannst dir nicht vorstellen, wie viel es mir bedeutet, dass du dem zugestimmt hast.

Du warst mein bester Freund und bist es immer noch.
Aber du bist soviel mehr für mich geworden in letzter Zeit.
Eine Stütze, ein Vertrauter. Ein Begleiter. Ein Engel.
Ich hoffe, dass ich dir jetzt auch einer sein kann...
Wenn du das hier ließt werde ich tot sein. Sei bitte nicht allzu traurig.
Die letzten Wochen waren eine einzige Qual. Eine nicht enden wollende Hölle.

Mein einziger Lichtblick warst du und dein Besuch, an den ich schon fast nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Der Tod wird eine Erlösung sein. Außerdem werde ich glücklich sterben können. 

Ich habe dich gesehen und sogar umarmen können. Mehr habe ich mir nicht mehr gewünscht...
Bitte mach dir keine Vorwürfe, weil ich bei unserer Begegnung geweint habe. Das war nicht deine Schuld.
Es war nur einfach alles zu viel für mich in diesem Moment.
Aber das konntest du nicht wissen.
Danke, dass du versucht hast mich zu trösten.
Das bedeutet mir viel.

Als letztes habe ich aber doch noch einen Wunsch. Einen allerletzten Wunsch, Manu.
Schau nicht zurück.
Ich weiß, das ist viel verlangt.
Aber ich kann nicht mit dem Wissen von hier gehen, dass du dein Leben nicht mehr leben kannst.
Bitte, schau in die Zukunft.
Grüße meine Zuschauer von mir, mache weiter Videos, die so viele Menschen erreichen und berühren.
Muntere sie auf und erleichtere ihren Alltag, sowie du es bei mir getan hast.
Lach mit unseren Freunden und stell dir vor, ich lache mit, vielleicht tue ich es ja auch von irgendwo...
Mach weiter Scherze über Tumore, das Thema ist auch so schon ernst genug...
Bitte, versprich mir das.
Schau niemals zurück!
Dein Bester Freund und bald Engel,
Dario'

Tränen tropften auf den Brief in meiner Hand, ich konnte sie nicht mehr zurückhalten.
Vorsichtig faltete ich ihn wieder, legte ihn sorgfältig in den Umschlag zurück und stand auf.
Das erste Mal seit Stunden nahm ich meine Umgebung wieder wahr.
Meine Füße trugen mich zum Schreibtisch und ich schaltete den Computer an.
Auch das hatte ich lange nicht mehr getan, seit jenem Tag vor drei Wochen nicht mehr.
Dario war mein Antrieb gewesen, seit er weg war, hatte ich kein einziges Video mehr gemacht.
Doch er wünschte es sich und deswegen würde ich es tun.
Würde den Zuschauern erzählen, was geschehen war. Würde weiter machen.
Ihm zuliebe.