Kapitel 9

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Thorsten und Nick:

So, da war er nun. Inmitten von zwanzig hippen jungen Menschen, die Thorsten anhimmelten, als wäre er der neue Messias. Und in ihren Augen war er eben das. Der neue Messias, ihr persönlicher Jesus der Apokalypse. Ihr kleiner weinender Heilsbringer. Und jetzt erwarteten sie von ihm, dass er Ihnen einen neuen Weg aufzeigte. Den Weg, wie sie gemeinsam die letzten Tage verbringen konnten. Den Weg, wie sie ihre Gefühle auf ehrliche Weise nach draußen tragen können. Kurz gesagt: Wie sie Eindruck mit Heulen machen können. Und genau wie dieser junge Mann, Nick, von dem er noch nicht mit Sicherheit wusste, dass er sein leiblicher Sohn war, sagte: „Wenn Sie Dich als Messias sehen wollen, dann gib Ihnen, was sie wollen. Sei ihr Messias!". Und genau das hatte er jetzt vor.

Angefangen hatte alles, nachdem dieser Nick von der Party geschmissen werden sollte. Thorsten beobachtete die Aggression ein paar Augenblicke, dann fing er wieder an zu weinen. Durch so viel Mitleid berührt entschied man, dass Nick auf der Party bleiben durfte. Thorsten bat darauf, dass er sich mit dem jungen Mann unterhalten durfte. Alleine. Der Plattenproduzent brachte sie in sein persönliches.

Nick und Thorsten saßen sich einen Moment schweigend gegenüber. Und da Thorsten sich erhoffte, etwas über seine Vergangenheit herauszufinden, begann er Nick Fragen zu stellen.

„Stimmt es, dass Du mein Sohn bist?" fragte Thorsten. Nick tat sich schwer, nicht die Kontrolle zu verlieren.

„Wir sind jetzt alleine, Du kannst diese verfickte Show endlich lassen. Was soll dieser Fick überhaupt?" sagte Nick.

„Auch wenn ich mich nicht daran erinnere Dein Vater zu sein, möchte ich trotzdem kein Gespräch auf so einem Niveau führen." Nick schüttelte den Kopf. Typischer Satz seines Vaters.

„Du scheinst ja wirklich ein netter junger Mann zu sein – und die Leute mögen Dich. Und so wie Du singst, mit so viel Emotion und Leidenschaft, das ist einfach großartig! Das hat mich bewegt und ich musste..."

„Flennen wie eine kleine Pussi!" sagte Nick und erwartete einen weiteren Tadel seines Vaters. Doch Thorsten lächelte nur.

„Ja, da hast Du wohl Recht. Die Wahrheit ist, Dein Lied hat mich wirklich im Herzen gerührt und ich wäre tatsächlich froh, wenn ich einen Sohn wie Dich hätte – aber es tut mir wirklich leid, doch ich kann mich nicht erinnern." Nick, der sich eigentlich nicht daran erinnern konnte, dass sein Vater jemals stolz auf ihn gewesen war, war merkwürdig bewegt. Doch einige Zweifel blieben. Nick kannte seinen Vater. Er wusste, dass er durchaus in der Lage war, so eine Geschichte zu erfinden. Aus welchem Grund, dass wusste Nick nicht. Vielleicht hatte er keinen Bock mehr, seine letzten Tage zu Hause zu verbringen. Und das war etwas, dass Nick verstand. Daraufhin erzählte Thorsten von dem Unfall und seiner Amnesie. Nick hörte schweigend zu.

„Du kannst Dich also wirklich an nichts erinnern?" fragte Nick. Thorsten schüttelte seinen Kopf. An gar nichts. Nein.

„Tut mir Leid."

„Auch nicht an Mutter?"

„Leider nein."

„Oder an Maya oder Hannah?"

„Auch nicht!"

„Und was ist mit Christina?" fragte Nick.

„Keine Christina. Nein." antwortete Thorsten.

Nick nickte. Er kannte auch keine Christina. Zumindest keine mit der er verwandt war und wenn doch, dann... Nick wollte diesen Gedanken nicht zu Ende denken. Sein Vater erinnerte sich tatsächlich nicht. Das war interessant. Daraus konnte er durchaus Kapital schlagen. Wenn sie zusammen arbeiteten, dann stände Ihnen die Welt offen. Nick würde überall Lieder singen können, würde auf den geilsten Apokalypse-Partys auftreten. Schon vor dem Tag der Verkündung wünschte sich Nick, einmal im Soho-Haus oder bei den zahlreichen Schauspielern auftreten zu können. Und nun war diese Möglichkeit zum Greifen nahe. Genauso wie die besten Drogen, die noch verfügbar waren. Wenn sein Vater sich also an nichts erinnerte war das ein Glückgriff. Und außerdem hatte er die Möglichkeit endlich den Vater zu haben, den er sich immer gewünscht hatte.

„Da kannst Du Dich ja irgendwie glücklich schätzen." sagte Nick.

„Wieso?" wollte Thorsten wissen." „Was meinst Du damit?"

„Wegen Mutter... aber eigentlich sollte ich das gar nicht erzählen. Freu Dich einfach darüber, dass Deine Festplatte gelöscht wurde. Reset. Und go!"

„Du kannst nicht mit so etwas beginnen und dann abbrechen. Erzähl mir über... wie heißt Deine Mutter?"

„Katharina. Aber ich will wirklich nicht..."

„Jetzt erzähl schon. Ich weiß ja sowieso nicht, ob Du die Wahrheit sagst!" sagte Thorsten. Nick musste sich ein Lächeln verkneifen. Jetzt hatte er seinen Vater so weit.

„Ich mein nur, wegen der Trennung. Du hättest ihr doch nie verziehen, was sie Dir angetan hat!"

„Erzähl endlich!" Thorsten, der zwar bis vor kurzem nicht einmal mehr wusste, dass er überhaupt eine Familie hatte, hatte diese auch schon wieder verloren. Dieses Ganze emotionale Chaos machte ihn verrückt. Er brauchte Klarheit. Musste wissen, wo er stand.

„Naja... Du weißt doch – oh entschuldige – Also kurz gefasst: Mutter hatte Dich betrogen. Nicht nur einmal, sondern mehrmals. Und Du hast es immer runtergeschluckt, hast ihr immer wieder verziehen. Sie hat uns sogar verboten, dass wir Dich sehen und dabei hätte ich Dich so gerne..." Nick tat so, als wische er sich eine Träne weg. Auch Thorsten kamen sofort wieder die Tränen.

„Ich hatte mir immer so sehr gewünscht, dass wir zusammen..:" Nick schluchzte. Thorsten nahm ihn in den Arm. Nun brach es auch Thorsten heraus.

Thorsten und Nick schworen sich, dass sie ab jetzt alles gemeinsam machen würden. Sie würden nicht getrennt in die Apokalypse gehen. Sondern zusammen. Aber vorher würden sie noch die Welt zu einem besseren Ort machen. Nick als Musiker – und Thorsten als der „Neue Jesus der Apokalypse". Nick erzählte seinem Vater, dass er sogar einen Song über ihn schreiben würde.

KATHARINA, HANNAH UND STEFAN:

Stefan kniete über der Leiche von Maya. Er konnte es einfach nicht glauben. Wieso haben diese Menschen, nein es waren keine Menschen, diese Tiere Maya das bloß angetan. Sie hatte doch keiner Seele etwas zu Leide getan.

Und genau wie Katharina auch, wollte er Maya rächen. Seit seine Eltern durchgedreht waren, gab es für Stefan nur noch Maya. Er war sogar weiterhin in diesen dämlichen Unterricht ihres Vaters gegangen und hatte die letzten Wochen seines Lebens mit diesem langweiligen Scheiß verbracht. Und jetzt war sie tot. Was sollte er denn jetzt machen?

„Was weißt Du darüber?" fragte Katharina und schob Stefan das Stickeralbum hin. Stefan nahm es vorsichtig an sich. Es war voller Blut.

„Das ist meins... Maya wollte mir helfen den letzten Sticker zu finden." sagte Stefan. Einen Moment schwiegen Katharina, Hannah und Stefan. Jeder erinnerte sich an Maya. Und jeder hatte seine eigenen Erinnerungen. Doch in einer Sache waren die Erinnerungen alle gleich: Wenn Maya sich etwas vorgenommen hatte, dann hätte sie das auch durchgezogen. Aufgeben war keine Option.

So erinnerte sich Katharina daran, wie Maya als kleines Mädchen Fahrrad fahren gelernt hatte. Es war Mayas unbedingter Wille und so übte sie wirklich jede freie Sekunde zu fahren. Sie war sogar nachts aufgestanden und hatte sich aus dem Haus geschlichen. Wenig später klingelte dann sie Polizei und brachte Maya wieder nach Hause.

Hannah erinnerte sich, wie ihre kleine Schwester erfuhr, dass sie gegen Haselnüsse allergisch war. Immer wenn sie Haselnussprodukte aß, wurde es ihr schlecht. Und Haselnüsse waren in ihrer Lieblingsschokocreme. Jeden Tag aß sie ein Brot mit Haselnusscreme zum Frühstück. Und jetzt sollte sie damit aufhören. Doch Maya sah das überhaupt nicht ein. Sie aß einfach jeden Tag weiter ihre Brote, ja verdoppelte sogar die Menge. Und das obwohl sie sich fast jeden Morgen übergeben musste. Das ging schließlich so weit, dass Maya einen Tag ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Langsam wurde ihre Hartnäckigkeit lebensgefährlich. Hannah musste Lachen, als sie daran dachte.

Stefans Erinnerung war eine ähnliche. Stefan war damals sehr schlecht in Latein gewesen. Latein – eine tote Sprache, die er nun im Angesicht der Apokalypse wirklich nicht mehr brauchte. Hätte man doch Mal sinnvolles wie Backen oder so gelehrt. Stefan war damals wirklich am Verzweifeln und so sehr er sich auch bemühte –er verstand die Grammatik einfach nicht. Doch Maya war der festen Überzeugung, dass eigentlich jeder alles kann – solange er an sich selbst glaubte. Nach vier Monaten hatte Maya Stefan auch genau das bewiesen.

„Wir werden diesen Sticker finden" sagte Katharina. Hannah und Stefan sahen sie an. Sie brauchten nichts zu sagen. Sie wussten, dass das die einzige Möglichkeit war, Mayas Andenken gerecht zu werden.

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