Kapitel 2

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Hannah:

Hannah wusste nicht mehr genau, wie vielen Menschen sie geholfen hatte zu sterben. Aber jedes Mal lief es nach dem gleichen Muster ab: Die Leute riefen sie – das Festnetz war noch relativ zuverlässig, während das Mobilfunknetz nur noch in den seltensten Fällen funktionierte – man vereinbarte einen passenden Termin und traf sich. Anfänglich hatte Hannah gedacht, dass diejenigen, die sterben wollten, zur Kategorie „einsame Menschen" zählten. Doch erstaunlicherweise waren die meisten ältere Leute, die mehrere Kinder hatten, manchmal sogar Enkelkinder. Je mehr man liebte und geliebt wurde, desto mehr Gründe gab es, zu sterben. Man hatte einfach mehr zu verlieren. Und sie rief man dann hinzu, weil Menschen in den Händen einer fremden Person einfacher loslassen konnten.

Hannahs größter Traum war es schon immer gewesen, die Menschen zu unterhalten. Ihnen dabei zu helfen, dass sie ihre Sorgen vergessen. Deshalb wollte sie schon mit 4 Jahren Schauspielerin werden. Doch dann hatte sie den Unfall. Wenn ihre Familie über den Unfall redete, dann sagten alle auch immer nur: der Unfall. Auch wenn sie den Unfall knapp überlebt hatte, wünschte Hannah sich doch schon im Krankenhaus, dass sie es nicht getan hätte. Sie konnte einige Monate nicht laufen, musste in die Reha. Doch das schlimmste war die große Narbe, die sich über ihr ganzes Gesicht zog. In dem Augenblick, indem sie aufwachte, war ihr klar gewesen, dass sie niemals Schauspielerin werden konnte. Oder Model. Oder glücklich. Hannah beschloss, dass sie nie wieder in eine Schule gehen wollte, geschweige denn überhaupt vor die Tür. Am Ende hatte sie es ihrer Mutter, der großen berühmten Kinderpsychologin Katharina Orbe, zu verdanken, dass sie sich nicht umgebracht hatte. Aber nicht, weil sie eine großartige psychologische Meisterleistung bei ihrem Kind vollbracht hatte, wie sie selbst glaubte und penibel ungenau in ihrem neuesten Buch „Gib Deinem Kind eine Hand" beschrieben hatte. Tatsächlich war Hannah nur aus dem Grunde noch am Leben, weil niemand so sehr von sich selbst überzeugt war, wie ihre Mutter. Ihre größte Freude war es, sich selbst beim Reden zu genießen und sich anschließend für diese großartige sprachliche Leistung zu gratulieren. Und dann dieses dauernde an einem herumanalysieren. Das hatte Hannah ganz wahnsinnig gemacht. Dabei hatte sie sich so sehr gewünscht, dass ihre Mutter ihr einfach nur mal zuhörte. Nur zuhören und auf die Kalendersprüche verzichten. Dennoch empfand Hannah keinen Groll gegen ihre Mutter. Sie war ihr sogar dankbar, denn nur so hatte sie selbst gelernt, wie wichtig Zuhören war. Richtig Zuhören und nicht darauf warten, dass man endlich selbst wieder reden durfte.

Und so kam Hannahs Job auch nicht von ungefähr, war sie doch vor der Katastrophe Radiomoderatorin gewesen. Sie hatte sogar ihre eigene Call-In-Show, in der Menschen sie anriefen, um von ihren Problemen zu erzählen. Die Sendung war wirklich erfolgreich, was zum größten Teil daran lag, dass Hannah jeden einzelnen Menschen ernst nahm. Bei jedem Anrufer gab sich Hannah die größte Mühe, sich in die Person hineinzuversetzen, in ihrer Haut zu wandeln. Jetzt gab es kein Radio mehr, doch Hannah war gut in dem, was sie tat. Also ging sie jetzt zu den Menschen nach Hause und begleitete sie dabei, wenn sie diese Erde verlassen wollten. Und hörte Ihnen zu. An manchen Tag hatte sie vier, vielleicht fünf Menschen begleitet. Heute stand nur einer auf der Liste.

Hannah verglich die Adresse mit der in ihrem Notizbuch. Sie war da. Doch irgendwas machte sie nervös. Sie kannte dieses Haus, war schon einmal hier gewesen. Wann und warum wollte ihr jedoch nicht einfallen. Und einen Namen hatte die Person auch nicht hinterlassen. Hannah suchte nach der Klingel. Auch kein Name. Sie zögerte, vielleicht sollte sie umdrehen und einfach davon gehen. In letzter Zeit wurde es immer gefährlicher. Dann entschied sie sich zu klingeln. Ihr Herz schlug immer schneller, als sie Schritte hörte. Sie wusste, dass sie gehen sollte, aber sie tat es nicht.

„Hallo Hannah, ich hab auf Dich gewartet.", sagte die Stimme.

Thorsten:

Nach der Schule hatte Maya ihn gebeten nur ein paar Minuten zu warten. Sie hatte noch etwas mit diesem Stefan zu besprechen. Das hatte sie zumindest gesagt: Sie hätten noch etwas zu „besprechen". Als ob er nicht wusste, was los war. Dennoch, Thorsten mochte Stefan. Er war zwar ein Idiot, aber ein harmloser. Die richtigen Idioten kamen schon lange nicht mehr in die Schule. Die waren jetzt entweder bekifft, besoffen, plünderten, mordeten, vergewaltigten oder waren schon längst tot. Und die schlimmsten von Ihnen schauten wahrscheinlich gerade Fernsehen oder zockten an ihrer Playstation. Also, so gesehen, es hätte seine Tochter schlimmer treffen können. Früher hätte er Stefan wahrscheinlich trotz allem gehasst. Und nicht nur ihn. Er hätte jeden Jungen gehasst, der seiner kleinen Maya auch nur einen Schritt zu nahe gekommen wäre. Da hätte auch der erste Platz bei „Jugend forscht" oder ein Sieg bei der Schachweltmeisterschaft nicht geholfen. Er hätte sie alle gehasst.

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