Kapitel 20

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Thorsten:
Inzwischen saß Thorsten 3 Tage in diesem Raum eingeschlossen. Im Schneidersitz sitzend, die Augen geschlossen und so die Umwelt und vor allem seine nackte weibliche Anhängerschaar ausblendend. Nachdem sie mehrere Male Sex hatten, wurde auch das gewöhnlich und langweilig. Geschweige denn auch langsam unmöglich. Also war es besser seine Augen geschlossen zu halten. Und wie Thorsten so da saß, passierte es – Thorsten erreichte eine neue Bewusstseinsstufe. Und er sah die Dinge klar und verständlich. Er sah sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen. In kleinen bunten Abschnitten. Dabei stachen einzelne Szenen besonders hervor:
So etwa als Thorsten fünf Jahre alt war. Damals hatte er mit seinen Eltern in einem kleinen Dorf gelebt. Damals hatte es auch noch so richtig geschneit. Nicht nur kurz und lasch wie die letzten Jahre. Nein, es hatte richtig geschneit. Tage und Nächte lang. Manchmal 30-40cm am Tag. Und dann konnte man ganz herrlich mit seinen Freunden Iglus bauen. Zumindest wenn man Freunde hatte. Doch die hatte Thorsten nicht. Er hatte sich zwar im Laufe seines Lebens eingeredet, dass er welche hatte. Und irgendwann hat sein Gehirn die Vergangenheit zu seinen eigenen Gunsten umgeschrieben. Verändert. Aber jetzt, mit dem Bild des Iglus kam auch die wahre, unverfälschte Erinnerung zurück. Er hatte keine Freunde. Keinen einzigen. Den meisten Jungen war er damals einfach zu emotional. Er fühlte Dinge stärker als andere, nahm emotionale Schichten wahr, die manchen Erwachsenen ihr Leben lang verborgen blieben. Und diese Sensibilität machte ihn zu einem Außenseiter. Einem Emo-Freak. Und das schon mit fünf Jahren.
Also spielte Thorsten meistens mit sich alleine. Baute Iglus und versteckte sich dort vor der Welt. Und aus diesem Iglu heraus beobachtete er immer einen kleinen Vogel, der noch nicht fliegen konnte. Und dieser Vogel hatte das Eislaufen für sich entdeckt. Also nicht so, wie Menschen auf Eis liefen, sondern der Vogel kam immer an und rutschte auf einer Eisschicht von links nach rechts. Ob nun absichtlich oder nicht, konnte er nicht sagen, aber für Thorsten sah es so aus, als hätte der Vogel unglaublichen Spaß dabei. Und kaum etwas machte ihn so glücklich, wie diesen Vogel zu beobachten. Und wenn er dann abends nach Hause kam, hatte seine Mutter ihm immer einen heißen Zitronentee gemacht. Keinen frischen, sondern den aus diesen Körnern. Thorsten liebte diesen Zitronentee. Thorsten lief bei dem Gedanken an diesen Tee das Wasser im Mund zusammen. Er schwor sich, diesen Tee zu besorgen, bevor die Welt unterging. Ob mit oder ohne Iglu. Sehr wahrscheinlich ohne Iglu, da bei jedem Meter, den der Asteroid näher kam, die Temperatur auf der Erde stieg. Und der Meteorit kam verflucht schnell näher.
Weitere Bilder erschienen vor seinem inneren Auge. Aber keines konnte Thorsten festhalten. Der Tag seiner Kommunion. Die Geldschenke von Nachbarn, mit denen er vorher nie ein Wort gesprochen hatte. Der unglaublich monotone und langweilige Ferienjob in eine Firma, die Zubehörteile für Autos herstellte. Der Tod seiner Großmutter, die er nie besonders gut gekannt hatte. Oder gemocht. Seine Zeit in der Grundschule. Die Flucht nach Südamerika, als er Student war und mit der Trennung seiner Eltern nicht klar kam. Seine Gedanken wirbelten ohne System durch seine Erinnerungen. Aber immer wieder kehrten sie zu jenem Tag im Winter zurück.
Jetzt sah er sich deutlich in dem Iglu liegen. Er schaute aus einem kleinen Guckloch. Nur wenige Zentimeter breit. Trotzdem hatte es ihm einige Kraft gekostet, dass Loch überhaupt in  zu bekommen. Zweimal war es über ihm zusammen gebrochen. Aber Thorsten wollte einen Ausblick haben. Er wollte in seiner eigenen kleinen Welt liegen und die Welt außen aus sicherer Entfernung beobachten. Als er es endlich geschafft hatte, war er noch schnell nach Hause gelaufen und hatte sich von seiner Mutter eine Kanne mit Zitronentee geben lassen.
Wenig später schaute er Tee schlürfend aus dem kleinen Guckloch. Die Sonne brachte die Schneeflocken zum Tanzen. Thorsten wartete auf das kleine Vögelchen, das immer dann kam, wenn es sich unbeobachtet fühlte. Thorsten fühlte sich selten so zufrieden wie an jenem Tag. Das war seine eigene kleine Welt. Sein Reich. Glücklich trank er einen Schluck warm Zitronentee und lächelte.
Dann passierte etwas, dass Thorstens ganzes Leben verändern sollte. Diese Veränderung war schleichend und irreversibel. Und Thorsten selber war sich der verändernden Kraft dieses Ereignisses nicht bewusst. Bis zu eben diese­m Augenblick. 40 Jahre später. Erst jetzt konnte er die damaligen Ereignisse mit den jetzigen in Verbindung bringen. Mit dem Menschen, der er seit dem geworden war.
Als er die Schneeflocken bei ihrem Tanz beobachtete, kam ein junges Pärchen vorbei. Sie blieben an einem Klettergerüst in der Nähe stehen. Sie waren beide noch in der Schule, so um die 14 Jahre. Zuerst hielten sie nur unschuldig Händchen. Der Junge machte eine besondere Show, versuchte durch besonders cooles Verhalten dem Mädchen zu imponieren. Er warf Schneebälle, wusch sich selber das Gesicht mit Schnee oder machte einen besonders feurigen Engel auf dem Boden. Dass er verliebt war, sah sogar Thorsten, obwohl er zu diesem Zeitpunkt erst fünf war.
Nachdem der Balz des Jungen endlich auf fruchtbaren Boden gestoßen war, fingen die beiden sich an zu küssen. Und Thorsten wurde es mulmig, hatte das Gefühl, dass er die beiden nicht beobachten sollte, aber konnte nicht anders. Er musste immer wieder hinschauen. Sah, wie der Junge seine Hand unter den Wollpullover des Mädchens schon. Er verstand nicht warum, glaubte damals aber er müsse seine Hände aufwärmen. Und dann kam wieder der kleine Vogel. Sein kleiner Vogel. Und er hüpfte zu dem Jungen und dem Mädchen, schlitterte dabei über das Eis. Als der Junge und das Mädchen dann den kleinen Vogel bemerkten sie, hörten sie auf rum zu fummeln. Sie schauten dem Vogel einen Moment lang zu. Lachten dabei sogar. Und der Vogel vollführte seine kleine Eistänzershow. Dann, aus heiterem Himmel, trat der Junge auf den Vogel drauf. Mit einem einzigen Fußtritt löschte er das Leben des kleinen Vogels aus. Thorsten wollte schreien, hielt sich aber den Mund zu. Er hatte Angst, dass der Junge dann das gleiche mit ihm machen würde. Den Jungen und das Mädchen schien das alles nicht zu kümmern. Sie knutschten fröhlich weiter. Und so sehr Thorsten in diesem Augenblick auch weinen wollte, er konnte es nicht. Diese ganze Szene war außerhalb dessen, was sein noch so junger Verstand begreifen konnte. Er wusste nur, dass er weder schrie noch weinte, aus Angst, dass der Junge ihm dann auch mit einem Tritt das Rückgrat brach.
Thorsten begriff, als er an diesen Punkt der Erinnerung angekommen war, dass er all die Jahre nicht geweint hatte, weil er befürchtete sonst zu sterben. Niemals, bis zum Augenblick der Apokalypse. Aber da war sein Tot schon Gewissheit. Unausweichlich. Und jetzt begann er zu weinen. Endlich wieder. Und nicht nur wegen des kleinen Vogels, sondern weil er endlich wusste wer er war. Er weinte so herzzerreißend, dass kurze Zeit später der ganze Raum in sein Weinen einstieg.

Apokalypse BerlinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt