Thorsten:
Thorsten wollte so gerne die Augen öffnen, aber er hatte Angst, dass man ihn dann entlarvte. Entlarvte als den Schwindler, der er war. Und diese Blöße wollte er sich nicht geben. Wenn man von ihm erwarte, dass er weinte, dann würde er weinen. Nur konnte er sich an nichts Trauriges erinnern. Und deswegen konnte er auch nicht weinen. Also blieb er einfach nur so sitzen. Irgendwann würde ihm schon was trauriges einfallen.
Er fragte sich, wie lange man wohl bewegungslos einfach so dasitzen konnte? Wie lange schaffte er es, ohne etwas zu Essen oder zu trinken, bevor er schließlich aufgab? Und seine Augen zu öffnen traute er sich auch nicht. Vielleicht starrten sie ihm ins Gesicht und würden merken, wenn er die Augen aufschlug, dass er gar nicht wirklich meditierte. Er wusste ja nicht einmal wie das ging. Aber - es war schon faszinierend, wie sehr sich die anderen Sinne schärften, wenn man einfach nur so dasaß. Zuerst schmerzte es ihn im Schneidersitz zu sitzen, war er doch nie so gelenkig gewesen. Doch nach wenigen Stunden konnte er sich so sehr in den Schmerz sinken lassen, dass er ihn einfach ignorierte. Und als der Schmerz nachließ kam - die Langeweile. Ihm fiel einfach nichts ein, worüber er nachdenken konnte. Und diese Langeweile machte ihn langsam verrückt. Vielleicht sollte er einfach seine Augen öffnen. Was sollte schon passieren? Sie würden ihn schon nicht köpfen. Oder doch? Er wusste es nicht. Aber so einen winzig kleinen Blinzeler musste er einfach wagen. Vielleicht waren die beiden Frauen ja auch schon eingeschlafen. Vielleicht war es auch schon Nacht und sie konnten ihn nicht sehen. Das reichte. Jetzt würde er die Augen öffnen oder noch so lange hier sitzen, bis er verhungert war. Thorsten zählte langsam bis fünf, dann würde er blinzeln. Eins. Zwei. Drei. Vier...
Hannah
Hannah wusste ja, was dieses Stickeralbum für ihre Mutter bedeutete. Und ihr bedeutete es selbstverständlich auch was, den letzten Wunsch ihrer Schwester zu erfüllen. Aber sie wusste, dass dieser junge Mann, der da geschrien hatte, ihr Bruder war. Ihre Augen hatten sich zwar nur wenige Augenblicke getroffen, aber da war diese tiefe Verbundenheit, wie sie nur Geschwister hatten. Sie wusste einfach, dass es Nick war. Und auch wenn nicht – es ging nichts desto trotz um ein Menschenleben. Und Hannah hatte so etwas wie einen Helfer-komplex. Sie musste Menschen einfach helfen. Doch sie wollte ihre Mutter auch nicht alleine lassen. Diese Gegend war viel zu gefährlich. Und Stefan – er war ja ein lieber und netter Junge, aber auch irgendwie ein richtiges Weichei. Alleine würde er wahrscheinlich keine fünf Minuten in dieser Welt überleben. Hannah war hin und her gerissen, als sie einen Schrei hörte. Den Hilfeschrei eines jungen Mannes. Den Hilfeschrei ihre Bruders. Dessen war sie sich jetzt ganz sicher. Die Stimme gehörte ihrem Bruder. Und grade als sie losrennen wollte, um ihn zu helfen, brach ihre Mutter zusammen und fiel zu Boden.
Justus:
Justus und Tammy mussten sich in dieser Nacht in vielen Gassen verstecken. Eigentlich hatten sie vor, sich zu Tammy nachhause zu schleichen, aber da wäre es niemals sicher gewesen. Justus wusste, dass sie das Haus überwachten. Und dass sie hinter ihnen her waren. Sie würden so lange keine Ruhe geben, bis sie sie gefunden hatten. Vor allem nachdem was sie in der Enklave angerichtet hatten. Und so einigten sie sich schließlich darauf, Berlin zu verlassen und nach Justus alter Heimat zu gehen. Zu seinen Eltern, der alten Bäckerei und dem kleinen Dorf, an das er so viele Erinnerungen hatte. Doch vorher brauchten sie noch Vorräte und ein bisschen Ausrüstung. Justus wollte zum Kadewe. Er wusste zwar nicht, ob das Kaufhaus noch existierte oder inzwischen geschlossen war. Vielleicht war es ja auch eine Zuflucht für den Besitzer und all seine Freunde. Aber er wusste, dass sie dort alles bekommen, was sie benötigten. Doch nachts war es reiner Selbstmord durch Berlin zu ziehen. Und das in dem Zustand, in dem Justus sich befand. Als sie endlich eine Zuflucht in einem verlassenen Kiosk fanden, machten sich diese Wunden zum ersten Mal bemerkbar. Auch wenn sie vorerst in Sicherheit waren, konnte er nicht schlafen.
Stefan:
Das war alles zu viel. Erst die Sache mit Maya und jetzt brach auch noch Katharina zusammen. Als gäbe es einen Fluch, der auf dieser Familie lastete. Aber wenn er genau darüber nachdachte, war seine Familie ja nicht besser dran gewesen. Von Ihnen lebte keiner mehr. Aber das taten sie auch nie richtig: Vor allem nicht sein Stiefvater. Der berühmte Anwalt. Der arbeitete. Und arbeitete. Tag ein tagaus. Und wofür? Für dieses dämliche kleine Einfamilienhaus in Spandau. Mit Blick auf die Zitadelle. Darauf war sein Stiefvater immer sehr stolz gewesen. Ganz im Gegensatz zu ihm. Stefan konnte sich nicht daran erinnern, wann sein Stiefvater ihn auch nur einmal gelobt hatte. Anfangs hatte Stefan ja alles gemacht, damit er die Aufmerksamkeit seines neuen Vater bekam. Er hatte sogar etwas gestohlen und sich dann verhaften lassen in der Hoffnung, dass sein Stiefvater, der berühmte Anwalt, ihn höchst persönlich rausholen würde. Doch stattdessen schickte der nur einen seiner Partner. An diesem Tag war dieser Mann für ihn gestorben. Er wünschte sich so sehr, dass er die letzten Stunden mit seinem wahren Vater hätte verbringen können. Und noch während er darüber nachdachte, befand er sich schon beinahe auf dem Balkon des Comicladens. Stefan würde diesen Sticker finden. Doch vorher würde Katharina helfen, denn jetzt war sie und Hannah das, was einer Familie am nächsten kam.
Nick:
Noch waren die wilden Väter ihm auf den Fersen. Er konnte ihre wütenden Stimmen hinter sich hören. Nick verfluchte, dass er keine Schuhe anhatte, denn dann wäre er diesen dickbäuchigen Wohlstandsärschen einfach so davon gelaufen. Mit oder ohne Wunde an seinem Bein. Ja sogar high wären diese schwabbeligen Prenzlauer Berg Hipster kein Problem für ihn gewesen. Die sahen doch alle aus, als hätten sie ihre Kinder zum Frühstück verspeist und noch nicht ausgeschissen. Nick lachte über diese Vorstellung. Das gab ihm Kraft und er konnte ein wenig schneller laufen.
Als er um die nächste Ecke bog, war er jedoch in eine Sackgasse geraten. Er blickte sich um, da war nichts, rein gar nichts, wo er sich verstecken konnte. Diese verfluchte Gasse war einer dieser Gassen, wie man sie in schlechten Hollywood Filmen fand. Düster, dunkel, eng und nur ohne einen Ausweg.
Er schaute sich um und sah tatsächlich keine Versteckmöglichkeiten, als die Stimmen immer näher kamen. Nichts, außer einer Mülltonne. Nick schüttelte seinen Kopf. Er wollte nicht, wusste aber dass ihm nichts anderes übrig blieb. Und wenige Sekunden später war er in der großen Mülltonne zwischen alten Fischresten, Windeln und etwas, dass nach Obst aussah. Und da die Mülltonnen schon seit Wochen nicht mehr abgeholt worden waren, war der Gestank überwältigend. Er verlor langsam das Bewusstsein, als er hörte, wie die Männer immer näher kamen.
Katharina:
Sie merkte noch, wie ihr Kopf auf das harte Pflaster aufschlug. Zuvor vergingen die Sekunden des Fallens wie in Zeitlupe. Die Stimme, die sie gehört hatte, gehörte tatsächlich ihrem Sohn. Nick. Den sie schon seit Wochen nicht mehr gesehen hatte. Nick hatte früher schon immer so geschrien. Eher wie ein kleines Mädchen, dass man einem Ball weggenommen hatte, als wie ein Junge. Und wenn sie darüber nachdachte, hat sich Nick eigentlich nie wie ein Junge verhalten. Ihm war Mode, Musik und In-Magazine immer wichtiger als alles andere gewesen. Die Playstation, die er zu seinem 14ten Geburtstag geschenkt bekommen hatte, hatte er so gut wie nie benutzt. Und der unglaubliche Konsum an Frauen war ein weiteres Indiz für sie, dass ihr Sohn eigentlich im falschen Körper gefangen war. Nick war tief in seinem Inneren eine Frau. In diese Gedanken mischte sich plötzlich die Stimme ihrer Tochter. Hannah. Sie verstand nicht wirklich, was sie sagte. Aber ihr Gesicht sah sehr aufgeregt an. Katharina war sich der Aufregung gar nicht so bewusst. Schließlich fiel sie lediglich nach hinten, als hätte sie etwas am Kopf getroffen. Und dann fiel es ihr ein. Es hatte sie etwas am Kopf getroffen.
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Apokalypse Berlin
Sci-fiIn genau 52 Wochen wird die Erde zerstört sein. Alles Leben ausgelöscht. Und niemand kann diesem Schicksal entkommen. Ein riesiger Asteroid wird ausgerechnet an Sylvester die Erde treffen. Doch wie damit umgehen? Diese Frage stellt sich auch die woh...