Kapitel 17

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Katharina:

Katharina quälten Alpträume. Sie träumte von Maya, träumte von Tammy, träumte davon, was sie in Tammys Haus gemacht hatte. Und dann wachte sie auf. Schweißgebadet. Angewidert. Katharina schüttelte sich mehrmals, um die Bilder jener Nacht wieder los zu werden. Sie versuchte ihre Gedanken bewusst zu Tammy zu lenken. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob Tammy nicht doch... aber das war nun auch egal. Sie ging zum Waschbecken, schüttete sich ein Glas Wasser ein.

Es war dunkel im Comicladen, man sah nichts weiter als eine bunte Neonreklame irgendeines Comics, die das Licht der Straßenlaterne widerspiegelte. Anscheinend war hier das Stromnetz noch in Ordnung. Katharina dachte einen Moment darüber nach, dass es jetzt Menschen gab, die ohne Strom, ohne fließendes Wasser leben mussten. Und manche hatten mehr als das. Es gab Menschen, die lebten auch jetzt noch im Überfluss, sicher hinter ihren Panzertüren und Leibwächtern versteckt. Aber dann – wo war der Unterschied zu früher. Auch damals, vor der Apokalypse war es nicht anders. Es gab Menschen, die hatten alles. Es gab Menschen die hatten nichts. Menschen die jede Sekunde um ihr Überleben, das Überleben ihrer Kinder fürchten mussten. Und sie gehörte zu den privilegierten Menschen, die sich nie über nichts Gedanken gemacht hatten. Und wirklich dankbar war sie dafür niemals gewesen. Warum auch – für sie war der Lebensstandard seit Geburt ein Teil ihres Lebens. Nichts Ungewöhnliches. Warum es also in Frage stellen? Dennoch glaubte sie, dass der Mensch grundsätzlich die Wahl hat zwischen Leben und Tod – zumindest bis zu diesem Augenblick, denn es war unbestreitbar, dass der Asteroid eben jene Illusion zerstörte – hatte. Sie glaubte, dass man zwischen Kreativität und destruktiver Gewalt, zwischen Wirklichkeitssinn und Illusion, zwischen Objektivität und Intoleranz, zwischen brüderlicher Unabhängigkeit und egoistischer Co-Abhängigkeit die Wahl hatte. Und eben jene Werte hatte auch sie durch ihr Schweigen mit den Füßen getreten. Aber nicht nur sie – auch ihre Eltern und vor allem ihre Kinder. Generationen von Menschen, die nicht wertschätzten, was sie hatten. Aus dieser Sicht heraus konnte man über das Ende der Menschheit durchaus froh sein, da es das Ende der ständigen Wiederholung von Geburt und Wiedergeboren werden endlich durchbrach – vielleicht die Chance für eine friedvollere Rasse als die des Menschen.

Inzwischen war Katharina davon überzeugt, dass Erich Fromm recht hat - die Liebe ist sozusagen der „Hauptschlüssel", mit dem sich die Tore zum Wachstum öffnen lassen. Liebe ist die eine produktive Orientierung, zu deren Wesen es gehört, dass folgende Merkmale gleichzeitig vorhanden sind: Man muss sich für das, womit man eins werden will, interessieren, sich für es verantwortlich fühlen, es achten und es verstehen. Und genau das hatten die Menschen jahrelang nicht getan. Wenn sie jemanden achteten, dann lediglich sich selbst – oder den nächsten Fick um die Ecke.

Da tauchte Steffan hinter ihr auf. Katharina erschrak, ließ sich aber nichts anmerken. Stefan brauchte sie nun als Leitfigur. Brauchte sie als Beschützer.

„Der Sticker ist nicht hier!" sagte Stefan.

„Hast Du alles durchsucht?"

„Natürlich. Alles. Sogar die aus den anderen Jahren."

„Ok." antwortete Katharina. „Dann müssen wir weiter suchen."

„Ich habe schon Peter und Bob gefragt. Sie machen uns eine Liste."

Katharina lächelte. Sie nahm einen großen Schluck Wasser. „Wir brechen in einer Stunde auf?"

„Sollen wir nicht bis morgen früh warten?" wollte Stefan wissen.

„Wir können auch bis zum Einschlag warten" gab Katharina zurück. Sie war es Leid Dinge aufzuschieben. Damals hatte sie so einen Ratgeber gelesen und darüber gelacht. Jetzt da sie ihre „Deadline" kannte, erkannte sie, dass sehr viel Wahrheit darin steckte. Man konnte nicht alles ewig aufschieben. Die Zeit lief.

„Alles klar, ich weck Peter und Bob" sagte Stefan und ging ins Nebenzimmer. An seiner Körperhaltung sah sie, dass Stefan gerne noch geblieben wäre. Und das wäre sie auch. Peter und Bob waren schräg, aber gute Menschen. Und hier waren sie sicher. Aber Katharina hatte geschworen, dass sie diesen Sticker finden würden.

Kurze Zeit später waren sie wieder auf dem Weg. Peter und Bob hatten sie noch verabschiedet, Bob hatte ihnen sogar einen Proviantkoffer gepackt. Mit geschmierten Stullen. Katharina, Stefan und Hannah drehten sich alle wehmütig nach dem Comicladen um.

„Meint ihr, dass alle Comicladenbesitzer so gut drauf sind?" fragte Hannah.

„Glaubst Du, dass alle Comedians in Wirklichkeit witzig sind?" fragte Katharina und brachte Hannah so zum Schweigen. „Wie weit ist es bis zum nächsten Laden?"

„Kreuzberg" sagte Stefan. Dann gingen sie schweigend nebeneinander her.


NICK:

Die Ratte. Das war Nicks erster Gedanke. Und als er die Augen aufschlug bewahrheitete sich genau das. Eine dicke Ratte krabbelte über sein Gesicht. Die gleiche Ratte, die ihm beinahe den Tod eingebracht hatte. Wütend schlug Nick nach der Ratte und sich selbst voll ins Gesicht. Dabei platzte seine Lippe auf. Wütend schrie er auf. Wütend auf sich selbst, stimmte das alte Sprichwort: "So dumm das es weh tut" in diesem Falle Wort wörtlich.

Als Nick sich daraufhin ein wenig gesammelt hatte, kletterte er so schnell wie möglich aus der Mülltonne heraus. Und erst jetzt kam ihm sein Zustand so ganz zu Bewusstsein. Die Drogen waren inzwischen vollständig von seinem Körper abgebaut. Er fühlte sich schlechter als je zuvor. Als er dann an sich herunter schaute und seinen nackten und dreckigen Körper sah, da blieb ihm schlagartig die Luft weg. Er wollte einatmen, wollte den Druck von seiner Brust nehmen, aber es war ihm nicht möglich. Ihm blieb die Luft weg. Das war sie also - die Panikattacke. Er hatte oft davon gehört, hatte sie bei Sopranos gesehen und irgendwie für so einen New-Age-Scheiß gehalten. Das hatte er jetzt davon. Wenn er sich doch bloß daran erinnern könnte, was Tony Soprano so gemacht hatte. Es war irgendwas mit Enten. Doch bevor dieser Gedanke klare Konturen bekommen konnte, wurde Nick schon Schwarz vor Augen. Er konnte sich noch grade fangen, bevor er nach hinten kippte. Er hielt sich an einem Gitter fest und schloss die Augen. Und dann passierte das, wovor er seit seiner Jugend am meisten Angst hatte. Er fing an zu heulen. Genau wie sein Vater. Und genau wie bei seinem Vater konnte er das nicht kontrollieren. Er wollte aufhören, aber es wurde immer schlimmer. Und immer lauter. Zuerrst ein Wimmern, dann ein stöhnen und schließlich ein lautes Schluchzen. Bevor er dann in die Phase des Schreiens eintrat sah er Polizisten auf sich zukommen.

Nick war sofort klar, dass seine Ausgangslage nicht die Beste war. Nackt alleine wäre schon schwer zu erklären, aber nackt, voll Müll und dann auch noch weinend in einer Straße zu hocken machte die Situation nahezu aussichtslos. Und als er die Polizisten - seit wann gab es denn verfluchte Cops, wenn diese Kerle überhaupt Cops waren - auf sich zukommen sah, da wurde sein Geheule immer schlimmer. Er versuchte zu stoppen, versuchte ein ordentliches Wort hervorzubringen, aber es gelang ihm nicht. Und als schließlich noch eine Erektion bekam, verschwand auch der letzte Anflug von Mitleid von den Gesichtern der Polizei. Der jüngere der beiden Polizisten holte seinen Schlagstock heraus und schlug ihn Nick über den Kopf.

Apokalypse BerlinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt