Kapitel 16

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Thorsten:

Als Thorsten schließlich die Augen öffnete staunte er nicht schlecht. Da saßen zahlreiche junge Frauen vor ihm. So ungefähr 16. Und alle hatten die Augen geschlossen, meditierten oder schliefen. Als er die Augen schloss, waren es nur zwei gewesen. Die anderen hatte Thorsten nicht kommen hören. Er blinzelte noch einige Male, um sich einen genauen Überblick zu verschaffen. Und schon nach wenigen Sekunden konnte er die Augen geschlossen halten. Ein genaues Bild der Personen hatte sich in seinem Gedächtnis eingebrannt. Einmal hatte Thorsten über eine Technik gelesen, die das visuelle Vorstellungsvermögen trainierte. Dabei sollte man durch die Straßen laufen. Mit geschlossenen Augen. Und man sollte immer wieder blinzeln. Alle vier Meter. Angeblich prägten sich so sogar mehr Details ein, als wenn man die Augen die ganze Zeit offen hielt. Und tatsächlich. Ein paar Mal blinzeln hatte genügt. Er sah alle Frauen vor sich. Eine schöner als die andere. Eine weniger bekleidet als die nächste. Und sofort stellte sich der Wunsch ein, alle zu vernaschen.

Thorsten atmete mehrmals tief durch, versuchte seine aufkeimende Lust zu unterdrücken. Aber so ganz gelang ihm das nicht. Und er wusste, dass das jetzt wirklich mehr als unangemessen war. Man erwartete von ihm, dass er den Schmerz aller Anwesenden in sich aufnimmt und in ein Meer aus Tränen verwandelte. Wenn ihm das gelänge, dann wäre es auch nicht allzu unwahrscheinlich, dass die eine oder andere Jüngerin ihm ihre Dankbarkeit in Form von körperlicher Nähe zeigte. Doch genau wie die letzten 37 Stunden, in denen er nun schon schweigend so dasaß, konnte er immer noch keinen traurigen Gedanken fassen. Es war wirklich zum verrückt werden. Sein ganzes Leben lang war er traurig gewesen, aber jetzt, da war diese verfluchte Traurigkeit auf einmal verschwunden. Hatte sich in Luft aufgelöst. Aber so war es schon immer mir allem in Thorstens Leben gewesen. Sobald er etwas unbedingt herbeisehnte, löste es sich in Luft auf.

Thorsten hatte das damals auch häufig bei seinen Schülern ähnliche Erlebnisse beobachtet. Je mehr sie sich anstrengten, desto mehr verkrampften sie sich. Und desto schlechter wurden auch ihre Leistungen. Dabei meinte Thorsten nicht, dass man seinen großen Lebenstraum aufgeben musste, da dieser sowieso unerreichbar sei. Er war vielmehr davon überzeugt, dass man eine gewisse Lockerheit brauchte, um ans Ziel zu kommen. Das gleiche galt für die Liebe. Wenn man jemanden liebte, dann durfte man diese Person nicht ersticken mit seiner eigenen Liebe. Dann musste man ihn frei lassen, wie man einen Vogel freilassen sollte. Im Käfig war noch nichts Großes entstanden. Weder Liebe noch große Ideen.

Und auch jetzt. Was die Apokalypse, betraf konnte man dasselbe beobachten. Je mehr  die Menschen sich das Leben herbeiwünschten, desto bewusster wurde Ihnen, dass sie nicht mehr lange leben würden. Und zuvor, als es noch keine Apokalypse, keinen verschissenen Meteoriten gab, da hatten
die Menschen sich verhalten, als wären sie unsterblich. Eine hedonistischere Vergangenheit, als die der Menschen des zwanzigsten Jahrhundert hat es wahrscheinlich zuvor nicht gegeben. Aus dem einen Leben das Beste machen. Lebe schnell, stirb jung. Selbst empfinden, statt empfinden lassen. Das waren die Leitlinien, nach denen die Menschen ihr Leben in den letzten Jahren ausgerichtet hatten. Überall konnte man Ratgeber finden, die als Anleitung zu Lust und Freude und zur Vermeidung von Schmerz dienten. Entscheidend waren dabei jedoch nicht die Qualität der Lust, sondern einzig ihre Dauer und Intensität. Lieber High für ein kurzes Leben, als ein langes Leben nüchtern. Für die meisten seiner Schüler, ja sogar seiner Freunde, war Begierde nichts weiter als eine Krankheit oder der nackte Wahnsinn - oder beides. Niemand kümmerte sich noch um das Leben andrer. Jeder vergnügte sich, wo es ihm beliebte, und schritt dann ohne zurück zu blicken Weiter. Was all diese Hedonisten damals jedoch vergaßen, war, dass jede kleine Handlung des Alltags den Charakter prägt oder zerstört, und dass man deshalb das, was man im geheimen Zimmer getan hat, eines Tages mit lauter Stimme vom Dach herunter rufen muss. Es ist tragisch, wie wenige Menschen vor ihrem Tode im Besitze ihrer Seele sind. Die meisten Leute sind andre Leute. Ihre Gedanken sind die Meinungen andrer, ihr Leben Mimikry, ihre Leidenschaften ein Zitat.

Thorsten war wegen dieser Gedanken ganz aufgeregt. So etwas Bedeutendes hatte er noch nie zuvor gedacht. Er war sich sicher, dass das genau die Ideen waren, die seine „Jünger" von ihm hören wollten. Thorsten wollte gerade seine Augen öffnen, wollte ihnen seine Weisheiten entgegen schreien, als eine Hand in seine Hose fuhr. Und schon wenige Sekunden später hatte Thorsten all das wieder vergessen und gab sich ganz seiner Lust hin.

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