Kapitel 8

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Katahrina:

Es war inzwischen nach Mitternacht. Katharina und Hannah hatten eine Zeitlang einfach nur da gesessen und schweigend auf die Leiche von Maya gestarrt, als sie plötzlich Schritte aus dem oberen Stockwerk hörten. Katharina wunderte sich, dass sie in diesem Augenblick keine Angst spürte. Ganz im Gegenteil. Sie spürte eine Energie in sich aufsteigen, die sie zuvor noch nie bei sich wahrgenommen hatte. Sie hoffte sogar, dass die Schweine, die ihrer kleinen Tochter das angetan hatten, zurückgekommen waren.

„Vielleicht sind sie zurück..." flüsterte Hannah, die sofort angespannt und ängstlich wurde.

Doch Katharina antwortete ihr nicht. Sie stand auf und ging in die Küche, holte sich dort ein Messer. Hannah sah sie mit einer Mischung aus Neugierde und Angst an.

„Das hoffe ich doch sehr!" sagte Katharina. Ihr ganzer Körper war unter Strom. Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Das erinnerte sie an einen Artikel, den sie vor Jahren einmal gelesen hatte. Eine junge Mutter hatte einmal nach einem Unfall – ein Wagen war über ihre kleine Tochter gefahren und das Mädchen steckte dort fest – den Wagen einfach mit ihren bloßen Hände hochgehoben. Ihre Tochter befreit. Damals hatte Katharina das für eine reißerische Geschichte gehalten. Als typische Story, um das Sommerloch zu überbrücken. Jetzt wusste sie, dass die Geschichte wahr war. Ihre eigene Kraft war inzwischen ins Unermessliche gestiegen. Sie selber hätte jetzt alle drei Angreifer mit bloßen Händen töten können. Als sie das merkte, mischte sich auch Wut in ihre Gefühle. Wut auf sich selbst. Hätte sie gewusst, dass solche Kräfte in ihr steckten, dann wäre ihre Tochter jetzt noch am Leben.

Langsam, immer darauf bedacht, keinen Ton zu machen, ging Katharina Schritt für Schritt die Treppe hinauf.

„Sei vorsichtig!" rief Hannah ihrer Mutter hinter her. Die gab ihr als Antwort zu verstehen, dass sie ruhig sein sollte. Einen Moment lang horchten die beiden Frauen, hörten jedoch nichts. Hatten sie sich die Geräusche eventuell nur eingebildet? Eine Reaktion ihrer überreizten Gehirne? Oder waren sie zu laut gewesen und die Einbrecher lauschten genauso wie sie? Katharina ging eine Treppenstufe hoch, als auch aus Mayas Zimmer wieder ein Geräusch zu vernehmen war. Also war tatsächlich jemand dort.

Sofort war die gleiche Energie, die gleiche Anspannung bei Maya wieder voll da. Doch dieses Mal hastete sie die Treppen hinauf, achtet nicht darauf irgendwelche Geräusche zu verhindern. Sollten diese Schweine doch hören, dass sie zu ihnen unterwegs war. Bevor sie die Tür zu Mayas Zimmer öffnete, atmete sie einmal tief durch. Sie war sich im Klaren, dass sie gleich einen Menschen töten würde. Mit einem Messer. Erschreckender Weise fühlte sie Vorfreude. Sie hörte in Mayas Zimmer jemanden atmen. Hörte wie sich jemand an dem kleinen Fenster zu schaffen machte. Doch sie würde dieses Schwein nicht entkommen lassen.

Katharina stieß die Tür auf, stürmte mit ihrem Messer vor sich in das Zimmer. Drohend. Schreiend. Von Rache beflügelt. Am Fenster war tatsächlich eine Person, die gerade dabei war hinaus zu klettern. Durch den Schrei aufgeschreckt, drehte die Person sich um und hob die Hände schützend vors Gesicht.

„Tun sie mir nichts, Frau Orbe!" schrie die Person. Es war Stefan.

JUSTUS:

Klatschen. Singen. Zuhören. Klatschen. Singen. Klatschen. Und dann wurden die Namen der Sünder vorgelesen. Jeden Abend das gleiche Ritual mit dessen Hilfe man den Asteroiden aufhalten wollte. Und beim Verlesen der Namen wurde noch mehr geklatscht. Dabei handelte es sich um die Namen derjenigen, die angeblich ein Hindernis auf den Weg der Rettung darstellten. Die den Asteroiden anzogen, wie Käse die Maus. Es waren die Namen derjenigen, die durch ihr unchristliches Verhalten die Apokalypse erst möglich gemacht hatten. Kurz gefasst, die Namen derjenigen, die sterben mussten. Und alle jubelten. Nur Justus nicht. Und schon gar nicht, nachdem was er heute erlebt hatte.

Diese sogenannte „Messe der Gerechtigkeit" fand in einer alten Kirche statt. Früher einmal war hier ein heiliger Ort, ein Ort an dem man eine bestimmte Präsenz fühlte. Inzwischen war es ein Ort, an dem über Leben und Tod entschieden wurde. Ein Ort der mehr Verderben brachte als Erlösung. Allerdings wenn Justus richtig darüber nachdachte, war die Kirche schon immer ein Ort des Verderbens gewesen. Ein Ort, an dem über Leben und Tod entschieden worden war. Man denke nur an die Kreuzzüge oder die Inquisition. Wen wunderte es da noch, dass die Menschheit inzwischen dem Tode geweiht war.

Justus hatte sich nie viel aus Religion gemacht: Er mochte zwar Kirchen, die alten ehrfürchtigen Gebäude und die Ruhe, die diese Orte ausstrahlten. Aber zum Glauben fehlte ihm immer die Geduld. Und jetzt, da das Ende nahte, wirkte die Welt beim besten Willen nicht so, als ob sie durch das ganze Glauben der letzten 2000 Jahre, gerettet werden konnte. Er konnte jedoch nicht verschweigen, dass er neuerdings wieder betete. Allerdings war er sich immer unsicher, zu wem er eigentlich betete. Und so wirkten seine Bemühungen immer nur gewollt. Also gab er es schließlich wieder auf. Und jetzt wollte er nichts weiter als so schnell wie möglich weg von hier. Außerdem hatte er einen innerlichen Drang, sich bei der Familie des jungen Mädchens zu entschuldigen. Er wusste, dass das zwar nicht viel bringen würde und dass sie ihn dafür sogar töten konnten, aber das war ihm egal.

Justus hatte sich vorgenommen in dieser Nacht zu verschwinden. Er wusste, dass es nicht einfach werden würde. Das ganze Gelände wurde rund um die Uhr bewacht. Er musste also warten, bis alle anderen schliefen. Doch er schlief nicht alleine im Zimmer. Der Oberste hatte die Zimmer so eingeteilt, dass die „Säuberungsgruppen" immer zusammen schliefen. Das allein war schon schwer genug, denn Carsten hatte einen wirklich leichten Schlaf. Einmal war er total ausgerastet, als Justus nachts sein Kopfkissen auf den Boden hat fallen lassen. Doch Carsten trank immer einen starken Schnaps zum Einschlafen. Das war sein Ritual. Und Justus musste nur etwas Temazepam, K.O. Tropfen, die er früher einmal selber benutze, wenn er wieder unter Schlaflosigkeit litt, hinzumischen. Wenn er Carsten erst einmal „ausgeschaltet" hatte, kam der nächste schwere Part. Und er hatte sein Zimmer bis dahin noch nicht einmal verlassen.

Die Türen im alten Pfarrhaus wurden nachts immer von außen verschlossen. Das regte Justus schon die ganze Zeit auf, da er damals nachts öfter aufgewacht war, um auf Toilette zu gehen. Inzwischen trank er abends einfach nichts mehr. Der Schließer war sein einziger Freund hier. Justus war sich sicher, dass wenn er ihn fragte, dass dieser ausnahmsweise vergessen würde, die Tür zu schließen. Er würde natürlich nicht erzählen, dass er flüchten wollte. Er würde ihm die Geschichte einer Blasenentzündung auftischen. Wie gesagt, Justus war für seine schwache Blase bekannt und oft hatten die anderen sich schon über ihn lustig gemacht.

Wäre er erst einmal aus dem Zimmer kam der wirklich schwere Part. Die Wachen waren schwer bewaffnet. Sie waren an allen Türen postiert, so wie auf den Kirchtürmen. Und diese Kerle kannten wirklich keinen Spaß. Der Oberste behauptete zwar, dass diese strenge Bewachung nur dazu diente, um unliebsame Gäste draußen zu lassen. Genauso gut waren allerdings auch alle im Inneren dazu verdammt genau dort zu bleiben, wo sie waren. Also waren die üblichen Wege Tabu. Was die wenigstens allerdings nicht wussten, war, dass es noch einen Lieferanteneingang gab. Eine schwere große Metalltür, genauso dick wie die Wand und nur von außen zu öffnen. Aus diesem Grund wurde die Tür auch niemals bewacht. Wenn Justus bis zu dieser Tür gelangte, dann wäre er in Freiheit.

Justus überlegte noch, wie er seine Flucht timenmusste – er kannte die Wege der Wachen minutiös genau – da wurde noch einweiterer Name vorgelesen. Doch anstelle des üblichen frenetischen Applausesherrschte nun Schweigen. Justus meinte noch, dass er seinen eigenen Namengehört hatte, doch um sicher zu sein musste er nur in die Gesichter schauen,die ihn gerade alle anschauten. Es war tatsächlich sein Name gefallen.Instinktiv sprang Justus auf und rannte zum Ausgang. Doch er kam nicht weit.Zwei Wachen hatten ihn zu Boden geworfen. Justus wusste, dass er sterben würde.

Apokalypse BerlinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt