Kapitel 1

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MAYA:

Es war schon peinlich genug, dass der Lehrer mitten im Unterricht anfing zu heulen. Es war allerdings noch viel schlimmer, dass dieser jammernde Lehrer dann auch noch der eigene Vater war. Und genau das spürte Maya gerade in jeder Zelle ihres Körpers. Diese aggressive Peinlichkeit, die sie schon mit 12 Jahren empfand, als ihr Vater während einer Schulaufführung jeden ihrer Sätze mit Aufstehen und Klatschen begleitete. Und jetzt, mit 17 Jahren, wiederholte sich das Spiel erneut. Mitten im Klassenraum. Kann es noch schlimmer kommen?

Es konnte. Denn in diesem Augenblick heulte ihr Vater erneut laut auf. Und das alles auch noch vor ihrer besten Freundin Emily und, was viel schlimmer war - vor Stefan. Zum Glück nur, dass außer Ihnen niemand mehr zur Schule ging. Maya war klar, dass es in diesen Zeiten durchaus nichts Ungewöhnliches war, wenn Erwachsene in aller Öffentlichkeit heulten. Aber musste ihr Vater auch einer dieser Weicheier sein, die sich nicht zusammenreißen konnten? Zumindest hier in der Klasse? Vor einem Haufen Jugendlicher? Hatte man als Lehrer nicht eine moralische Pflicht eine Stütze für die Jugend zu sein? Eine Vorbildfunktion? Wo sollte das Alles denn enden, wenn jeder einfach immer zu heulte? Überall. Gut. Es war tragisch. In 52 Wochen wird die komplette Welt nicht mehr existieren. Und alle Menschen sind dann tot. Aber das sind noch 52 Wochen und Maya hatte durchaus nicht vor, diese Zeit mit Trauern zu verbringen. Meine Güte sie war noch Jungfrau, war niemals betrunken gewesen und einen Joint hatte sie auch nur im Fernsehen gesehen. Aber am wichtigsten – sie hatte keinen Abschluss. Und Maya empfand nichts als so unangebracht wie das Zeitige ohne einen Abschluss zu segnen. Keine Chance. Sie würde diesen Abschluss bekommen und wenn es das Einzige wäre, was sie noch machen würde. Was es wahrscheinlich auch war.

„Solltest Du Deinen Vater nicht trösten?" wollte Emily von Maya wissen. Emily und Maya waren seit der Grundschule befreundet, aber manchmal konnte sie wirklich dämliche Fragen stellen.

„Äh, nein! Eigentlich sollte er mich trösten. Und außerdem...". Mit einem Kopfnicken deutete Maya zu Stefan hinüber. Gerade als Emily zu Stefan herüberschauen wollte, stieß Maya sie an. Mit einem ernsten Blick gab Maya ihrer Freundin zu verstehen, dass sie nicht so auffällig zu Stefan schauen sollte.

„Was macht der eigentlich da die ganze Zeit?" wollte Emily wissen. Maya war das ziemlich egal, Hauptsache Stefan war da. Und nicht, weil sie sonst mit Emily und ihrem weinenden Vater alleine gewesen wäre, sondern weil sie sich einfach besser fühlte, wenn Stefan da war. Und genau in diesem Augenblick drehte sich Stefan zu ihr um.

„Maya, was machst Du nach der Schule?". Maya wollte antworten, aber ihr versagte die Stimme.

NICK:

Als sein Handy klingelte, träumte Nick gerade davon, wie er nach dem Konzert ein paar Groupies aufgerissen hatte. Zwillinge. Als Rockstar war es nicht schwer eine Frau flach zu legen. Dann kam Tinder und es wurde für jeden einfacher. Tja und nun also die Katastrophe und Sex bekam man nahezu an jeder Ecke. Seitdem die Frauen wussten, dass sie nur noch wenige Wochen zu leben hatten, machten sie bereitwillig die Beine breit. Für nahezu jeden. Für einen Rockstar erst recht. Genaugenommen war die Apokalypse für den Sex das, was illegale Downloads für Musik sind. Jeder konnte alles zu jeder Zeit haben.

Nick war gerade wieder eingenickt, da klingelte sein Handy erneut. „ Verfluchte Scheiße" murmelte er und tastete mit geschlossenen Augen nach dem Telefon. Plötzlich wurde das Handy in seine Hand geschoben. Nick spürte die zarten Finger, die ihm das Handy hingehalten hatten. Miriam? War sie wieder da? Nick traute sich nicht, die Augen zu öffnen, wollte er doch nicht wieder enttäuscht werden. Aber das wurde er. Denn sobald die von Alkohol und Zigaretten belegte Stimme die Worte:" Geh schon ran!" krächzte, war jeder Gedanke an Miriam verflogen. Enttäuscht, die Augen immer noch geschlossen, zog Nick seine Hand zurück. Das Handy klingelte erneut.

Schließlich öffnete Nick seine Augen, allerdings nicht um auf das Display zu schauen. Er wusste, dass das seine Mutter war. Schon seit Wochen versuchte sie ihn zu erreichen. Doch das nicht erst seit der Katastrophe. Seine Mutter hatte sich Sorgen um ihn gemacht, seit er von zu Hause ausgezogen war. Obwohl ausgezogen nicht so ganz zutraf. Eigentlich war er weggelaufen. Weder seine Mutter, noch Thorsten, sein Stiefvater, hatten davon gewusst. Genauso wenig wie von seiner Drogenabhängigkeit. Und trotzdem – eigentlich hatte er sich gar nicht so schlecht gemacht. Immerhin war er inzwischen ein Rockstar. Zumindest soweit man in diesen Zeiten noch so etwas wie ein Star sein konnte. Platten verkaufte niemand mehr. Downloads funktionierten schon einer Woche nach der Verkündung der Apokalypse nicht mehr. Das gleiche gilt für Youtube, tape-tv und andere Online-Dienste. Aber dennoch hatten die Leute einen unstillbaren Durst nach guter Musik. Nach guter, trauriger Musik. Musik, die die Tränen der gesamten Menschheit in einige wenige Töne zusammenfasste. Und genau diese Musik machte er. Die Musik zur Apokalypse. Das meinten die Kritiken wahrscheinlich damals auch, als sie sagten: „Musik wie eine Apokalypse."

Langsam gewöhnten sich seine Augen an das hereinströmende Tageslicht. Er war sich nicht sicher, aber er glaubte, dass auch die Intensität der Sonne täglich zunahm. Das erste was er sah, war ein Bein. Dann ein weiteres und schließlich noch drei Arme. Drei Arme? Also wenn die Frau, die zu der Stimme gehörte, nicht zufällig eine dreiarmige Mutantin war, dann war das mit den Zwillingen wohl doch kein Traum gewesen.

KATHARINA:

Genervt legte Katharina auf. Sie wollte nicht schon wieder auf die Mailbox reden. Sie war es ja inzwischen gewohnt, dass ihr Sohn nicht antwortete, aber heute hätte er doch tatsächlich Mal eine Ausnahme machen können. Es war immerhin sein Geburtstag. Und sie hatte sein Lieblingsessen gekocht. Das wollte sie ihm noch sagen. Dieses Jahr hatte sie sich vorgenommen, dass sie den Geburtstag ihres Sohnes feierten. Aber dieses Mal würden sie alle zusammen sitzen und diesen verfluchten Geburtstag zusammen verbringen. Genauso wie alle anderen Geburtstage dieser Familie auch. Immerhin würden sie nur noch diesen einen letzten Geburtstag haben, bevor die Welt sich in einen Haufen intergalaktischen Müll verwandelt.

Früher, als er noch an der Nadel hing, da meldete Nick sich wenigstens noch von Zeit zu Zeit, auch wenn er nur um Geld bettelte. Aber seit dieser furchtbaren Sache, da rief er überhaupt nicht mehr an. Und zwar nicht, weil er wie durch ein Wunder von seiner Sucht geheilt worden war, sondern weil Drogen jetzt verschenkt wurden. Und das sogar vom Staat. Jeder Haushalt erhielt zwei Pakete, als man mit Sicherheit wusste, dass es keine Hoffnung mehr gab, dass der Asteroid die Erde mit voller Wucht treffen würde. In dem einen Paket waren Drogen, in dem anderen Gift. Das eine, um das Unausweichliche erträglich zu machen, das andere um dem Unerträglichen auszuweichen. Katharina fand beides feige. Sie wollte keines von beiden und wer hatte in dieser Zeit schon mehr zu ertragen als eine liebende Mutter mit drei Kindern. Dabei war es scheißegal, dass sie ihren Sohn bereits vor 2 Jahren an diese verdammten Drogen verloren hatte. Aufgegeben hatte sie ihn nie.

Katharina hatte sich am „Tag der Verkündung", wie man den Tag allgemein nannte, damals geschworen, dass sie ihre Kinder um sich haben wird, wenn dieser Asteroid alles Leben auf der Erde auslöscht. Alle unter einem Dach. Doch jetzt saß sie Mal wieder alleine am Tisch und wartete darauf, dass überhaupt irgendjemand zum Essen erschien. Ihr Mann und ihre Tochter ließen sich neuerdings immer mehr Zeit, ehe sie von der Schule nach Hause kamen. Warum ihr Mann immer noch zur Schule ging, war ihr klar. So konnte er seinem Leben wenigstens noch einen Sinn geben. Und Katharina war auch selber froh darüber. So blieb ihr wenigstens sein ständiges Geheule erspart. Eigentlich wollte sie ihn dafür nicht verurteilen. Aber sie tat es trotzdem. Dabei heulte er ja nicht einmal um sich selbst, sondern um seine Kinder. Und über den ganzen Scheiß auf dieser beschissenen Welt. Immer wenn Katharina Tammy davon erzählte, musste die lachen. Für sie war Thorstens Verhalten lediglich eine Bestätigung dafür, dass Männer das schwache Geschlecht waren und sowieso Schuld an dieser ganzen Misere. Ihr selber war nicht klar, wie Männer Schuld an einer Apokalypse durch einen Asteroiden haben können, aber vielleicht hatte Tammy Recht. Sie hatte erschreckend oft Recht.

In diesem Augenblick hörte Katharina ein Geräusch von der Eingangstür. Sofort änderte sich ihr Gesicht zu einem Lächeln. Das musste Hannah sein. Wer auch sonst? Hannah hatte es sich wahrscheinlich anders überlegt und wollte mit ihnen zusammen essen. „Hannah Schatz, bist Du das?" freudig stürmte Katharina zur Eingangstür. Doch es war nicht Hannah. Auch nicht Chris, Maya oder Thorsten.

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