Es war eine Entscheidung zwischen Reichtum und einem vollen Magen, zwischen Beute und dem dringend benötigten Proviant für die verbleibenden Tage auf See. Diese Galeone hatte beides ausreichend geladen und auch wenn die eigenen Vorratskammern so gut wie leer waren, war es keine schwere Entscheidung. In ein paar Tagen würde die Dragon Tortuga anlaufen, so lange würden der Zwieback und das Trockenfleisch schon reichen. Ein bisschen Hunger gegen eine Ladung, die ihnen im Hafen viel Freude machen würde, kein echter Pirat konnte hier widerstehen. Der einzige Seemann, der echte Bedenken äußerte, war mal wieder eine Frau. Esmeralda versuchte, an die Vernunft der Mannschaft zu appellieren, aber sie hätte auch mit dem Steuerrad diskutieren können. Sogar in Francis Augen glänzte das Gold heller als sein Verstand. Abgestimmt wurde per Handzeichen und als Esmeralda als einzige ihre Hand hob, kochte sie vor stillem Zorn.
Ein paar Tage noch und sie wären sicher. Tortuga war in greifbarer Nähe und dort würden sie all die teuren Stoffe, die edlen Steine und Gewürze, mit denen das Schiff fast zum Bersten gefüllt war, in echtes Geld verwandeln. Viel Geld. Ja und dann... Die Männer redeten über nichts anderes mehr. Esmeralda hätte sich am Liebsten die Finger in die Ohren gesteckt und laut "Lalala" gesungen. Wein und Frauen, darauf lief es hinaus, bei den Meisten zumindest.Aus den wenigen Tagen wurden Wochen. Zuerst wehte der Wind so ungünstig, dass sie permanent den Kurs ändern mussten, dann zwang eine ganze Flotte der spanischen Marine sie dazu, sehr schnell und leise auszuweichen. Der Sturm, der die schwarzen Segel zerriss, hatte auch gerade noch gefehlt und aus den Notrationen wurden Appetithäppchen. Schließlich blieben nur noch ein paar Brocken madenzerfressener Schiffszwieback. Als sie endlich die Bucht von Tortuga erreichten glänzten die Augen der Männer immer noch, aber diesmal vor Hunger.
Die Waren zu verkaufen war eine Sache von Stunden, die Händler der Stadt waren mehr als erfreut, dass überhaupt jemand bei dem schlechten Wetter bei ihnen ankam. Als der Kapitän und der Quartiermeister, Francis und Esmeralda, alle ausbezahlt hatten und einen Urlaub von mehreren Wochen in Aussicht stellten, leerte sich das Schiff schneller, als das Wort "Wachplan" fallen konnte. Übrig blieben Francis, der erste Maat Jesse, und einige, die entweder zu jung oder zu alt waren, um dem Freudenhaus viel abzugewinnen oder andere Prioritäten hatten. Sei's drum, sie würden wiederkommen und nach den letzten Wochen hatte sich alle etwas Erholung verdient.Jessie und Francis trieb es ebenfalls nicht zu den käuflichen Damen Tortugas. Ihre obersten Prioritäten waren zuerst essen und dann schlafen. Lange schlafen. Der Sturm und dieser teuflische Wind hatte sie zu 12-Stunden-Schichten am Steuerrad gezwungen, zwischen denen sie sich höchstens ein "Guten Morgen" und "Gute Nacht" und "Scheisswetter heute" zugemurmelt hatten. Essen war sowieso keines mehr da und als das Magenknurren endlich aufgehört hatte, war auch jede Vorfreude und Begeisterung für die Vergnügungen der Hafenstadt dahin. Sie waren die ganze Zeit so nah gewesen und doch nie nah genug.
Nachdem die beiden in der nächstgelegenen Schenke so viel gegessen hatten, wie sie bei sich behalten konnten und die Avancen der dazugehörigen Damen dankend abgelehnt hatten, fielen ihnen nach dem zweiten oder dritten Bier die Augen zu. Der Weg zurück zum Schiff war eindeutig zu lang und als sie dann endlich angekommen waren, und die Wache in guten Händen wussten, fiel Francis' Kajütentür mit einem endgültigen Knall zu und das Bett wurde tatsächlich für den Zweck genutzt, zu dem es einmal gebaut worden war. Nämlich den Kapitän tief und erholsam schlafen zu lassen. Auch wenn diesmal der erste Maat laut schnarchend mit auf der Matratze lag und seinen Teil der verbliebenen karibischen Wälder im Schlaf zersägte.
Francis erwachte von zappelnden Spinnenbeinen auf seinem Gesicht, zumindest fühlte es sich so an. Er grunzte angewidert und versuchte das Krabbeln wegzuschlagen. Dann drehte er sich auf die Seite, nur um mit der Nase in einem stinkenden Stück Stoff zu landen. Und das Krabbeln war auch wieder da, diesmal unter seinem Hemd und den Rücken hoch. Mit einem genervten Aufschrei setzte er sich auf. Ein leises Lachen antwortete ihm. Scheinbar konnte das stinkende Stück Stoff auch sprechen.
"Guten Morgen, du Langschläfer. Die Sonne scheint."
Francis blinzelte.
Tatsächlich. Sonne. Wie widerlich. Scheinbar war er dem Bier gestern Abend doch zu sehr zugetan gewesen. So sehr zumindest, dass ihm jetzt der Schädel brummte. Der stinkende, aber sehr gut gelaunte Maat an seiner Seite schien damit keine Probleme zu haben. Und zusätzlich zu dieser widerlichen guten Laune presste sich dieser übel riechende Kobold auch noch an ihn und biss ihn in den Nacken. Die zappelnden Finger strichen jetzt über seinen Bauch und Francis konnte nicht mehr an sich halten. Er brach in lautes Gelächter aus. Dann schubste er Jesse von sich, zurück auf die Matratze.
"Finger weg, Maat. Du stinkst zum Himmel!"
"Glaubst du denn, du riechst besser?"
Vermutlich nicht. Die Wochen auf dem Meer, mit wenig Wasser und noch weniger Proviant, hatten aus ihnen zwei zerlumpte Vogelscheuchen gemacht. Schmutzig, mit verfilzten Haaren, sonnenverbrannter Haut und Kleidung, die außer Salzwasser schon lange keine ordentliche Wäsche mehr erfahren hatte. Immerhin hatte es noch zu einer notdürftigen Rasur gereicht. So gesehen konnten einem die Mädchen von gestern Abend fast leid tun, auch wenn sie wohl kaum die einzigen schlecht riechenden Männer gewesen waren.
"Das ist mein ganz persönlicher Schutz gegen aufdringliche Crewmitglieder. Nur bei dir scheint das ja nicht zu funktionieren."
Jesse schmollte. "Wenn ich mich so leicht abschrecken ließe, wäre das Leben auf dem Meer aber ganz schön langweilig."
Francis schwang sich aus dem Bett.
"Das muss warten. Lass uns erst mal sehen, was von unserer Mannschaft übrig geblieben ist."
Wie sich herausstellte war die Besatzung übersichtlich. Überall lagen schnarchende Männer, die es trotz Wein, Weib und Gesang gestern Abend noch zurück aufs Schiff geschafft hatten. Zum Glück war dieser Hafen sicher genug und ein unbewachtes Schiff nicht wirklich gefährdet. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und gerade als die beiden sich ein wenig die Beine vertreten wollten, kam Esmeralda die Planke hinauf. Sie sah ausgeschlafen aus und winkte Ihnen fröhlich zu.
"Käpt'n! Jesse! Na, schon wach?"
Jesse seufzte. Esmeralda hob die Augenbrauen und blickte Francis fragend an. Der deutete wieder neben sich.
"Er stinkt. Ich habe Prinzipien."
Jesse warf in gespielter Hilflosigkeit die Arme hoch.
"Ich bin ein Pirat. Wir dürfen stinken! Das ist nur der Geruch der Freiheit!
Und warum strahlst du überhaupt so. Wie war denn deine Nacht?"
"Kann mich nicht beklagen." Sie grinste über beide Ohren. "Aber jetzt brauche ich ein wenig Ruhe. Also wenn ihr ein bisschen Landurlaub braucht, lasst euch nicht aufhalten. Ich kann hier gerne übernehmen. Und ich weiß da eine sehr schöne versteckte Bucht in der Nähe."
Sie zwinkerte Jesse verschwörerisch zu.
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Piratenblut
AdventureFrancis Drake saß auf dem Boden der Gefängniszelle, die Hände im Schoß und den Kopf gegen die Wand gelehnt. Jesse hatte sich auf der Pritsche in der Zelle gegenüber ausgestreckt, stand jetzt jedoch auf und trat ganz nah ans Gitter heran. "Wenn du n...