Teil sechs - Gefangen

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Der Tag zog sich unerträglich in die Länge und Francis, Jesse und Matthew, der Schiffsjunge, die zusammen eingesperrt waren, hatten genügend Zeit ihren düsteren Gedanken nachzuhängen. Ihr ungewisses Schicksal schwebte wie ein drohender Schatten über ihnen und dass sie hier zur Untätigkeit verdammt waren, war wie eine Zerreissprobe für ihre Nerven.

Jesse saß mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, hatte die Beine angezogen und den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Auch wenn ihn die Ketten an Hand- und Fußgelenken daran hinderten, wirklich bequem zu sitzen, schloss er die Augen und versuchte zu schlafen.

Francis konnte das nicht. Sobald er die Augen schloss, füllte sich die Dunkelheit hinter seinen Lidern mit schrecklichen Bildern. Er sah Folterkammern, Galgen und Schafotte, hörte die Schreie der Sterbenden, das leise zischende Geräusch, mit dem das Beil die Luft zerschnitt. Aber das Schrecklichste war, dass er genau wusste, wer da litt. Es waren seine Gefährten, seine Freunde, die ihm ewige Treue geschworen hatten und die ihm nun in den Tod folgten. Er sah sich selbst, wie er den Kopf auf den Richtblock legte, hörte Jesses Todesschrei und dann seinen eigenen.

Nein, er konnte jetzt keine Ruhe finden. Er saß ebenfalls auf dem Boden, an die Wand gelehnt, doch seine Augen wanderten ziellos und unruhig umher. Er bemühte sich um Selbstbeherrschung, versuchte ruhig zu bleiben, doch es war zwecklos, sich etwas vorzumachen. Francis hatte Angst.

Der Schiffsjunge Matthew war allerdings einer Panik viel näher, nervös ging er an der Mauer auf und ab. So hatte er sich seine Karriere nun wirklich nicht vorgestellt. Er hatte um das Risiko gewusst, als er auf dem Piratenschiff anheuerte, aber dass diese Alpträume Realität werden sollte, das brachte in völlig aus dem Gleichgewicht.

Ihm wurde heiß, Schweiß bedeckte seine Stirn und in seine Augen stahl sich der Wahnsinn. Er blieb stehen, starrte ins Leere. Zuerst murmelte er leise, sprach wie zu sich selbst.

„Wir werden alle sterben."

Jesse blickte hoch. Jetzt wurde Matthews Stimme lauter, steigerte sich allmählich zu einem schrillen Kreischen.

„Sie werden uns umbringen! Einen nach dem Anderen!"

Seine Augen füllten sich mit Tränen, das Gesicht war schmerzverzerrt.

„Wir werden sterben! Alle! Habt ihr mich verstanden?!"

Er hämmerte gegen die Mauer.

„Sie werden uns alle umbringen!!"

Plötzlich fühlte er, wie sich zwei Hände um seine Schultern legten und ihn sanft von der Wand wegzogen.

„Ja, Matt, wir haben dich verstanden."

Matthew schluchzte laut und drehte sich zu seinem Kapitän um. Francis' Stimme war leise, er versuchte, den Jungen zu beruhigen, der da ganz in Tränen aufgelöst vor ihm stand. Aus seinen Augen sprach nicht mehr blanker Wahnsinn, sondern nur noch Verzweiflung, die jetzt mit aller Macht hervorbrach.

Francis fing den Jungen auf, als er sich in seine Arme warf. Rang und Disziplin spielten jetzt keine Rolle mehr, das Einzige, was noch wichtig war, war Matthew zu helfen und ihn zu trösten.

„Ich habe solche Angst..." brachte er hervor. Francis schloss für einen Moment die Augen. „Glaub mir, die haben wir alle." Jesse bestätigte ihm das. „Eine Scheißangst."

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