Das Sonnenlicht kroch langsam durch den Raum. Poliertes Holz glänzte und der flimmernde Staub funkelte. Waren das Vögel, die da zwitscherten oder gar kreischende Möwen? Auf jeden Fall musste das Wasser nicht allzuweit weg sein, etwas plätscherte oder schwappte.
Er stöhnte. Sein Kopf dröhnte. Er öffnete die Augen einen Spalt. Halt, nicht die Augen, ein Auge. Sein rechtes Auge funktionierte tadellos, auch wenn es ein sehr seltsames Gefühl war, die Dinge flacher zu sehen, als er das gewöhnt war. Sein linkes Auge, nunja, es war immer noch von einer Binde bedenkt und diese wiederum von einer schwarzen Klappe gehalten.
Er spürte, wie sein linkes Auge sich öffnen wollte, aber die dicke Salbe, die darauf verteilt war und die Schichten aus dünnem Tuch hinderten das Lid daran, sich zu heben. Es tat trotzdem weh. Der Schmerz schoss von seinem verletzten Auge durch seinen Kopf und er schloβ auch das gesunde wieder. Die Wunde auf seinem Gesicht brannte, aber dieser Schmerz war erträglich. Diese schwarze Leere, die sein Gesichtsfeld so einschränkte, daran konnte er sich nicht gewöhnen.
Hinter zwei geschlossenen Lidern wurde das Licht erträglich und die Geräusche lullten ihn wieder ein. Es war hier so ruhig und friedlich. Zu viel Ruhe brachte die Ereignisse der letzten Tage zurück. Seine Erinnerungen drohten zu verschwimmen, wenn er versuchte zu verstehen, was passiert war.
Die Bastille. Der Aufstand. Gefangene, Wachtposten, Soldaten. Der Lärm der Kämpfenden, die verzweifelte Wut der Eingesperrten gegen die Übermacht der schwerbewaffneten Soldaten, die immer noch nachrückten. Es war ein Blutbad gewesen und er irgendwo darin. Nachdem Karvantè ihn niedergestreckt hatte, hatte er es geschafft, aus dem gröβten Trubel zu kriechen und sich zusammen mit Matthew in die Schatten der Auβenmauern zurückzuziehen. Weiter konnte er nicht mehr laufen. Ihm war so unglaublich übel, sein Gesicht eine einzige Wunde, das Blut lief ihm in die Augen. Er war betäubt vom Schmerz und ein einziger Gedanke, der in seinem Kopf kreiste und immer wieder kreiste, lies ihn kaum atmen.
Er ist tot. Francis ist tot.
Wie ein Wirbelwind brach dann ein Pferd durch die Reihen der Kämpfenden. Auf seinem Rücken eine schwarz gekleidete Gestalt, für Jesse nur ein verschwommener Schatten. Sie schien zu suchen und es war Matthew, der sie auf sich aufmerksam machte. Dann ging es schnell und sie waren hinaus aus dem Tor, langsamer zwar, aber dieses Pferd war es wohl gewohnt, schwere Lasten zu tragen. Sie lieβen die Schlacht hinter sich, das Feuer, das sich immer weiter ausbreitete. Vor den Mauern waren ebenfalls Menschen, eine Menge Menschen, bewaffnet mit dem, was sie gerade in den Händen hatten. Sie jagden hindurch und für Jesse verschwamm irgendwann die Welt und alles, was er noch tun konnte, war sich festzuhalten.
Francis ist tot.
Er sah tot aus.
Hier irgendwo am Rande der Stadt, in einer Hütte, die sich an einen kleinen Wald schmiegte, gut versteckt und von auβen fast verfallen. Er lag in einem Bett und Esmeralda arbeitete wie besessen. Sie hatte ihm eine Flüssigkeit eingeflöβt, ein Gegengift nannte sie es. Dann fing sie an, ihn zu waschen, das heiβe Wasser dampfte an ihrer Seite.
Er sah immer noch tot aus. Warum konnte sie ihn nicht in Ruhe lassen? Warum musste sie die Verbände abreissen, die Jesse vor einer gefühlten Ewigkeit aus seinen eigenen Kleidern gemacht hatte. Sie waren nicht allein, es waren noch zwei weitere Menschen anwesend, eine Frau und ein Mann. Die Bewohner der Hütte? Sie reichten Esmeralda, wonach sie verlangte und trugen fort, was sie nicht mehr brauchte.
Jesse war bereits verarztet worden. Die Frau, die sich Esmeralda nannte, hatte sein Gesicht gesäubert und sein Auge untersucht. Jesse war laut geworden, er konnte sich erinnern, dass ihn jemand festgehalten hatte, als diese Hexe an seinem Auge gewerkelt hatte. Der Schmerz war unerträglich gewesen und der Nebel aus Rot wurde jetzt schwarz.
Esmeralda sah nicht zufrieden aus. Der Schweiβ stand ihr auf der Stirn, sie biss sich die Unterlippe blutig. Sie hatte ihm das Gegengift geben müssen, die Zeit war so verdammt knapp. Aber als sein Herz wieder schneller schlug, das Blut schneller floss und er anfing zu zucken, wurde es schwieriger. Sie fühlte Verletzungen, die sich nicht von auβen würden heilen lassen, und wenn er bei Bewusstsein war, würde das aus vielen Gründen schwer werden. Sie konnte ihn nicht noch einmal betäuben und die Schmerzmittel, die ihr zur Verfügung standen, würden kaum reichen.
Er sah immer noch tot aus.
Jesse wollte wieder aufstehen, Esmeralda an diesem Frevel hindern, aber er vermochte es nicht. Ihm war übel und schwindelig. Er saβ auf einer Decke an der Wand und konnte seinen Kapitän nur anstarren.
Sollte er bluten? Wenn er wirklich tot war? Seine Haut wirkte auch weniger fahl und zuckte er tatsächlich, als ihn die Frau wieder berührte? (Berührte? Verdammt, sie verletzte ihn. Schon wieder.) Als Francis das erste Mal hörbar nach Luft rang, trieb das Jesse zurück auf die Beine. Dann riss sein Kapitän die Augen auf, Panik im Blick, gehetzt wie ein wildes Tier. Er schien die Frau zu erkennen und als Jesse von zwei starken Armen aus dem Raum geschleift wurde, fing Francis wieder an zu schreien.
Das war nun schon einige Tage her. Die Stunden kamen und gingen, die Menschen kamen und gingen. Jesses Auge heilte irgendwie, auch wenn er immer noch nichts sehen konnte. Esmeralda wollte sich nicht festlegen, aber sie machte ihm keine groβen Hoffnungen, dass er sein Augenlicht zurückbekommen sollte. Eine Augenklappe wäre ja nun auch nicht das Schlimmste. Was wusste sie schon? Eine Auge alleine, das konnte im Kampf den Tod bedeuten. Sollte es wirklich auf eine Klappe hinauslaufen, würde er sich sehr schnell damit abfinden müssen und lernen, diese Einschränkung irgendwie auszugleichen.
Er seufzte und lauschte wieder. Ja, Vögel und Wasser. Sie waren nah am Fluss, die Seine begann nur ein paar Meter weiter, eine steil abfallende Böschung führte zu zum Fluss hinunter. Jesse wusste, das es bald an der Zeit wäre hier zu verschwinden.
Francis war immer noch nicht richtig aufgewacht, auch wenn Esmeralda behauptete, es ginge ihm besser. Sie hatte ihm von ihren Plänen erzählt, wie sie es geschafft hatte, die restliche Mannschaft aus Paris herauszuschmuggeln. Wie sie mit genug Geld (und anderen Argumenten) die Hafenarbeiter bestochen hatte, um die beschlagnahmte Dragon bei Nacht und Nebel verschwinden zu lassen, die jetzt hoffentlich bald hier eintreffen würde. Von Karvantè war nichts mehr zu hören und zu sehen gewesen, vielleicht war er in den Unruhen umgekommen, vielleicht hatte er sich (vermutlich zusammen mit der Königin) in Sicherheit auβerhalb der Stadt gebracht.
Francis Drake war tot, das war der offizielle Stand der Dinge und damit gab es für Karvantè keinen Grund, die weitere Geschichte der Dragon oder der verurteilten Männer zu verfolgen. Seine Rache war vollendet.
Jesse wusste nicht, was die Zukunft brachte. Er wusste nicht, ob Francis es wirklich schaffen würde und wenn, was die Zeit in Karvantes Folterkammer aus ihm gemacht hatte. Er wirkte in den wenigen halbwachen Momenten nicht wie er selbst. Esmeraldas Anblick reichte, um ihn völlig durchdrehen zu lassen. Sie war aber auch die Einzige, die Francis wahrzunehmen und zu erkennen schien.
Jesse saβ bei ihm, wenn er bewusstlos oder betäubt in den Laken lag, er half dabei, die Verbände zu wechseln, er sprach mit Esmeralda, die von einem Tag auf den anderen zuversichtlich oder hoffnungslos wirken konnte. Keiner von beiden wusste, was wirklich in der Bastille mit Drake geschehen war. Sie versuchten sich auszumalen, was er erlebt hatte, versuchten, die Spuren zu verstehen, die das auf seinem Körper hinterlassen hatte. Aber was Karvantè mit seiner Seele angerichtet hatte, würde ihnen Francis wohl eines Tages selbst erzählen müssen. Wenn er es denn überlebte.
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Piratenblut
AvventuraFrancis Drake saß auf dem Boden der Gefängniszelle, die Hände im Schoß und den Kopf gegen die Wand gelehnt. Jesse hatte sich auf der Pritsche in der Zelle gegenüber ausgestreckt, stand jetzt jedoch auf und trat ganz nah ans Gitter heran. "Wenn du n...