↠Kapitel 21↞

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↠18. Januar 2014↞


Jamie:

Val saß mit überkreuzten Beinen auf meiner improvisierten Couch, die aus dem etwa zwanzig Zentimeter schmalen Fenstersims und einer Decke bestand und starrte gedankenverloren auf die Straße hinaus. Ihre in schrecklichen Kuschelsocken verpackten Füße rasteten auf dem erkalteten Heizkörper unter dem Fenster und verhinderten damit, dass ihr Hintern von ihrem vernichtend kleinen Sitzplatz abrutschte. Keine besonders bequeme Position, aber es schien sie überhaupt nicht zu stören.

Sie hatte, seit sie in mein Zimmer gekommen war noch kein einziges Wort gesprochen und doch konnte ich mich nicht auf meinen Artikel konzentrieren, der am Montag fällig war.

Immer wieder stolperte ich über denselben Satz, den ich beim besten Willen nicht fertigbringen konnte. Irgendwie fehlten mir die passenden Worte und dazu mischte sich die völlig lächerliche Angst, das Geklapper meiner Tastatur könnte Valerie aus ihrer Träumerei reißen.

In letzter Zeit ließen laute Geräusche meine Schwester häufig zusammenzucken. Und was dann passierte, war absolut schrecklich. Val kapierte, dass sie in der Realität und in keinem Traum verweilte und fing an, zu weinen. Hinzu kam, dass sie sich vor dem Alleinsein fürchtete.

Nach der desaströsen Silvesternacht vor zwei Wochen war sie ebenfalls wieder Zuhause eingezogen und bereitwillig teilte ich meine winzige Zelle mit ihr.

Weil ich genau wusste, wie sie sich fühlte und wir nun beide irgendwie Loser waren. Meine Eltern hatten zwar kein Wort über den Vorfall verloren, aber ich konnte Mum ihren Schmerz deutlich ansehen. Der Kummer furchte sich in ihr junggebliebenes Gesicht und schabte tiefe Sorgenfalten hinein, die sie mit einem gefakten Lächeln vor mir und meiner Schwester verbergen wollte.

Valerie war nicht noch einmal in ihre gemeinsame Wohnung mit Cas zurückgekehrt und trug seitdem nun einfach meine Klamotten, die ihr viel zu groß waren, denn meine Schwester stammte eindeutig von den Hobbits ab. Während ich sie noch heimlich beobachtete, begann ihr Handy plötzlich zu vibrieren, was sie heftig zusammenzucken ließ. Blanker Horror zeichnete sich auf ihr hübsches Gesicht, aus dem alle Farbe wich. Ein schneller Blick aufs Display genügte, bevor sie mir das Ding mit angstvollem Blick reichte. Sie hatte den Arm so weit von sich gestreckt, als wäre der Gegenstand eine tickende Zeitbombe, die jeden Augenblick hochgehen könnte.

Mit einem Seufzen erhob ich mich und nahm ihr Handy entgegen. Ich musste gar nicht erst gucken, von wem der eingehende Anruf stammte. Ich wusste auch so, dass es Casandra war. Ohne einen Blick zu riskieren, drückte ich also auf Ablehnen und warf das Handy dann auf meine Matratze, um es aus Valeries Blickfeld zu manövrieren. „Ich weiß wirklich nicht, was an „Ruf nicht mehr an" so schwer zu verstehen ist.", brummte ich gereizt und nahm meine zitternde Schwester dann in die Arme. Ihr mittlerweile wohl ziemlich schmerzender Hintern rutschte von meinem Fenstersims und Val plumpste wie ein nasser Sack auf ihr Bett unterm Fenster- nicht ohne mich mitzuziehen und unsanft auf mir zu landen. Ich ächzte schmerzerfüllt, denn auch, wenn sie von Zwergengröße war, ihre Ellenbogen waren verdammt spitz und ihre Knie standen hervor, wie bei einem pupertierenden Schuljungen.

Dann sah ich meine Schwester an und sah ihre Verletzlichkeit. Ich sah ihren Schmerz, konnte ihn mit jeder Pore meines Körpers nachempfinden. Denn auch, wenn sie es nicht sagte, Cas fehlte ihr. Mir fehlte sie ja auch. Aber sie hatte etwas Unverzeihliches getan. Und es war ein unverglichlich großer Schock gewesen, denn Cas hatte Valerie eigentlich schon ihr ganzes Leben lang geliebt. Und es war ein Glück gewesen, dass sie meine Schwester so früh gefunden hatte. Ich war immer sicher gewesen, dass sie einander vor dem Schlimmsten bewahrt hatten...

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