↠Kapitel 35↞

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28. April 2015


Jamie:


Das gleichmäßige, langgezogene Tuten, das in der Leitung lag beruhigte mich.

Tut. Einatmen. Tut. Ausatmen.

Komm schon, James, so schwer ist es nicht. Du kannst das. Einfach ein bisschen Sauerstoff in die Lungen befördern und wenn es anfängt, zu brennen, als würden sie kurz vor dem Platzen stehen, lässt du ihn einfach wieder frei.

Als das monotone Geräusch, nach Sekunden des hoffnungsvollen Wartens schließlich abrupt endete, vergaß ich das mühevolle Luftholen prompt und sein Name entwich mir zusammen mit der restlichen Luft aus meinen Lungen. Endlich. «Hey, Niall, ich...»

Doch das Klicken am anderen Ende der Leitung war keineswegs das signifikante Zeichen des Entgegennehmens des Anrufes, wie ich es erwartet hatte. Für einen kurzen Moment, eine Millisekunde vielleicht, herrschte vollkommene Stille, bevor das Tuten wiedereinsetzte, hastiger diesmal. Niall hatte mich weggedrückt.

Ich starrte den Hörer an und vergaß für eine Sekunde sogar den Schmerz in meiner Brust. Seit wir einander kannten, hatte mich Niall noch niemals weggedrückt. Wenn er einen wichtigen Termin hatte, sprang sonst immer direkt die Mailbox an. Verwirrung und eine Verdopplung des Schmerzes waren die Folge, gefolgt von einem tiefen Unverständnis.

Vielleicht, ja, vielleicht war es ein Versehen gewesen. Vielleicht war er zu hastig gewesen oder abgelenkt oder... Oder er will einfach nicht mit dir Sprechen, flüsterte die kleine, fiese Stimme, die mein Unsicherheit war in meinem Kopf.

Unsinn! Warum sollte er nicht dir sprechen wollen?

Ich holte einmal tief Luft, gab mir einen Ruck und drückte auf Wahlwiederholung, nur um dasselbe, frustrierende Ergebnis davonzutragen. Niall drückte mich weg und als ich, von Wut und Verzweiflung getrieben, ein drittes Mal anrief- einfach so aus Trotz-, hatte er sein Handy ausgeschaltet.

Mit vor Zorn zitternden Händen unterdrückte ich den Impuls, das Handy auf den grauen Linoleumboden zu pfeffern und holte stattdessen einmal tief Luft.

Hier zu randalieren und Gefahr zu laufen, hinausgeworfen zu werden, änderte rein gar nichts an meiner misslichen Lage. Außerdem würde jeden Moment Mum auftauchen und ich konnte es ihr einfach nicht antun, einen Aufstand zu machen. Was meine Mutter brauchte, war ein Fels in der Brandung. Wenn ich ehrlich war, brauchten wir das im Augenblick irgendwie alle.

Deswegen hatte ich Niall angerufen. Weil ich die erste war, die hiervon erfahren hatte und folglich auch die erste, die in dem von kühlen Flurlicht erhellten und mit Zeitschriften ausgelegten Warteflur des Krankenhauses hockte, vor Schock gelähmt, mit aufgerissener Brust. Rein metaphorisch gesehen, natürlich. Hätte ich tatsächlich eine aufgerissene Brust, würde wohl ich in dem vehement abgeriegelten Not- OP- Raum liegen und mein Dad würde hier draußen sitzen und nicht andersrum.

Dads Herz hatte vor wenigen Minuten einfach so beschlossen, den Geist aufzugeben und frühzeitig Feierabend zu machen, einfach so, mitten am Tag, während um uns alle der Alltag tobte und es kam mir so unglaublich vor, so ungerecht und so überaus unwirklich, dass ich mich weigerte, es zu glauben. Und trotzdem saß ich hier, die Hände so fest um die Sitzfläche des Stuhles geklammert, auf dem ich irgendwie nur halb saß. Denn halb stand ich auch, bereit, sofort aufzuspringen, wenn sich einer der Weißkittel mit den besorgten Gesichtern auf den Flur hinauswagen würde. Unwissenheit ist das Schlimmste. Weil mit der Unwissenheit und den schlimmsten Befürchtungen und Horrorszenarien geht immer auch ein kleines bisschen Hoffnung einher. Vielleicht, damit wir nicht durchdrehen. Aber vielleicht tun wir das ja auch, wenn die Hoffnung stirbt, keine Ahnung.

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