Teil 4 (überarbeitet)

13.6K 571 14
                                    



Tessa

Zuerst bin ich mir nicht sicher, deswegen lausche ich mit angehaltenem Atem in die Dunkelheit, doch dann zerreißt ein weiterer Schrei die Stille der Nacht und ich setze mich mit wild klopfendem Herzen in meinem Bett auf und lausche in die Dunkelheit.

»Das ist Liam«, flüstere ich aufgeregt, kämpfe mich unter der dünnen Decke hervor und schlüpfe in meine Hausschuhe. Als ich die Schlafzimmertür erreiche, erschüttert ein weiterer Schrei und ein lautes, entsetztes »Nein« das kleine Haus. Ich beeile mich, zu Liams Zimmer zu kommen, mein Puls rast noch immer. Wahrscheinlich träumt er wieder und kann sich daraus nicht befreien. Aber was, wenn er mich wieder angreift?

Ich reiße seine Tür auf. Das Mondlicht fällt auf sein Gesicht, das zu einer Maske aus Schmerz verzogen ist. Er keucht im Schlaf und seine Fäuste krallen sich in das Bettlaken.

»Liam«, sage ich, dann rufe ich seinen Namen noch einmal lauter.

Er dreht sein Gesicht zur anderen Seite, strampelt und keucht wieder. Er wacht nicht auf, ich muss versuchen ihn zu berühren. Ohne Frage muss er geweckt werden, ich kann ihn doch nicht in seinen Albträumen allein zurücklassen. Vorsichtig gehe ich auf sein Bett zu und beuge mich über ihn. Er atmet heftig und sein Haar klebt an seiner verschwitzten Stirn. Ich kann mir nicht annähernd vorstellen, was dieser Mann durchmachen musste, aber ich kann nicht zulassen, dass sich dieses Grauen jede Nacht für ihn wiederholt, also lege ich meine Hand auf seine Schulter und rüttle ihn sanft.

»Liam, ich bin es. Tessa. Wach auf, du bist hier bei mir«, flehe ich ihn vorsichtig an. Ich berühre mit dem Finger die Narbe auf seiner Stirn und streiche darüber.

Er zuckt zusammen. Einen Moment glaube ich, er wird mich wegstoßen, doch dann öffnet er die Augen, sieht mich verwirrt an und sieht sich dann im Zimmer um. Er richtet sich auf und reibt sich über die Wangen, auf seinem Gesicht spiegelt sich Schmerz und Verwirrung wider, aber auch Scham. Ich will nicht, dass er sich für etwas schämt, das nicht seine Schuld ist.

»Ich hab wieder geschrien?«, fragt er heiser.

»Hast du.« Ich würde am liebsten vorpreschen und ihm sagen, dass das nichts macht, dass alles in Ordnung ist, aber ich halte mich zurück. Er soll nicht das Gefühl haben, ich würde vor Mitleid ertrinken. Aber es ist schwer, kein Mitleid mit ihm zu empfinden und dieses Gefühl immer zu verstecken, weil ich weiß, dass er nicht will, dass man ihn so sieht. Er will sich nicht schwach fühlen und ich will nicht, dass er glaubt, ich würde ihn für schwach halten. Es ist eine Gratwanderung, von der ich weiß, dass ich nicht gut darin bin.

»Das tut mir leid, Tessa.« Er sieht mich an und greift nach dem leeren Wasserglas auf seinem Nachttisch.

Ich nehme es ihm ab, bevor er aufstehen kann. »Ich mach das. Und das muss dir nicht leidtun. Dafür gibt es keinen Grund.«

»Doch, ich reiße dich jede Nacht aus dem Schlaf.«

Ich gehe in das kleine Bad gegenüber, fülle das Wasserglas und atme tief durch. Was er erlebt hat, belastet ihn genug. Ich darf nicht zulassen, dass er sich jetzt auch noch damit belastet, dass er sich Sorgen um mich macht. Ich fahre mir durch das Haar, als ich im Spiegel über dem Waschbecken sehe, dass es in alle Richtungen absteht. Dann schüttle ich grinsend den Kopf und verdrehe die Augen. Wieso mache ich mir Gedanken über mein Aussehen, schließlich habe ich nichts weiter als ein paar Pantoffeln, eine Shorts und ein Shirt an. Das noch dazu völlig verblasst ist, so oft wurde es schon gewaschen.

»Liam«, sage ich, als ich zurück in sein Zimmer komme. »Glaubst du wirklich, dass ich dich verurteile, nur weil du nachts noch einmal erlebst, was in den letzten Jahren dein Leben zur Hölle gemacht hat?« Ich halte ihm das Glas mit Wasser hin und versuche, seine breite Brust zu ignorieren. Auch den dunklen Streifen weicher Haare, der von seinem Nabel bis zum Rand der Bettdecke reicht, mit der er seinen Unterkörper bedeckt hat. »Ich werde dich nicht verurteilen, nicht dafür, dass du ein Held warst und dein Leben im Kampf gegen Terror riskiert hast.«

The Air we breatheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt