Teil 16 (überarbeitet)

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Tessa

Frustriert stoße ich die Luft zwischen den Lippen hervor, laut genug, damit Liam es hören kann. Seit dem Vorfall mit Mark heute Mittag, hat Liam weder mit mir noch mit George gesprochen. Wahrscheinlich können wir schon froh sein, dass er mit unseren Kunden gesprochen hat, die sich trotz aller peinlichen Vorkommnisse noch an unseren Stand verirrt haben, um etwas zu probieren oder zu kaufen. Auch wenn ich das Gefühl nicht los werde, dass die meisten von ihnen die Neugier zu uns getrieben hat.

Zornig fahre ich mir mit den Fingern durch die fitzigen Haare. So ein Tag auf einem Markt, mitten an der Hauptstraße einer Kleinstadt, ist anstrengender als ich gedacht habe. Vielleicht fühle ich mich aber auch einfach nur müde, zerzaust und mit den Nerven am Ende, und Liams Weigerung, mich zu bemerken, tut nur ihr übriges.

Ich starre aus dem Fenster des Pick-up, während wir Glenwood endlich hinter uns lassen und genieße den Anblick der Mountains, hinter denen die Sonne gerade untergeht. Wenigstens ist dieser Tag nun endlich vorbei, auch wenn ich mit dem Gefühl nach Hause gehe, dass sich nichts für mich geändert hat. Nichts ist besser geworden, wenn überhaupt ist alles schlechter geworden. Mark hat meine Hoffnungen in nur wenigen Augenblicken zerschlagen, wahrscheinlich werde ich nie wieder ein Leben führen können, ohne befürchten zu müssen, dass er hinter der nächsten Ecke lauert, um jeden Mann in die Flucht zu schlagen, der sich mir nähert. Kein Wunder, dass Liam nicht mehr mit mir spricht. Nach allem, was er schon erleiden musste, braucht er eine Frau wie mich nicht in seinem Leben. Eine Frau, an der ein aggressiver Trinker hängt.

»Liam, Mark wird immer da sein, das wird sich nicht ändern. Wenn ich es könnte, dann würde ich es tun, aber es geht nicht. Er ist ein Teil meines Lebens, auch ein Teil deines Lebens«, setze ich an und wende mich ihm zu. Statt zu reagieren, fährt er einfach schweigend weiter, die Lippen fest aufeinander gepresst und das Lenkrad fest umklammert, als wolle er es erwürgen. »Bevor wir beide zum ersten Mal Sex hatten, waren wir uns einig, dass wir erwachsen genug sind, es als das zu sehen, was es ist, damit es nicht kompliziert wird. Vielleicht ist es besser, wenn wir es dabei belassen, wenn wir einfach nur Freunde sind. Ich will nicht, dass du wegen mir Ärger hast, du hast schon genug, womit du kämpfen musst«, sage ich, auch wenn es mir die letzte Kraft abfordert, die ich nach diesem Tag noch habe. Wir können Freunde bleiben, wie sehr ich diese Aussage hasse, weil sie niemals wahr ist. Sie ist eine Ausrede, um einer Trennung die Hässlichkeit zu nehmen. Aber da Liam und ich nie wirklich zusammen waren, ist das hier ja keine Trennung. Wir beenden nur etwas, das wir angefangen haben, obwohl wir wussten, dass es kompliziert werden könnte. Trotz allem, was dafür spricht, dass wir es beenden, fällt es mir schwer, nicht an meinen eigenen Worten zu ersticken. Es zerreißt mir das Herz und ich fühle mich, als würde ich gerade etwas verlieren, von dem ich gehofft habe, es niemals verlieren zu müssen. Wahrscheinlich habe ich mich selbst belogen, als ich mir eingeredet habe, dass es nur Sex wäre, was mich zu Liam hinzieht.

»Ich habe keinen Ärger wegen dir«, sagt er plötzlich. »Ich habe ihn, weil ich Mark eine Frau weggenommen habe, die er so sehr geliebt hat wie ich. Und ich bin gerade dabei, ihm schon wieder eine Frau wegzunehmen.«

Ich schnaube entsetzt auf. »Du kannst ihm nichts wegnehmen, was ihm nicht gehört.«

Liam fährt die lange Auffahrt zwischen den Weiden nach oben und stellt das Auto vor der Scheune ab, dann lehnt er sich zu mir rüber und sieht mich ernst an. »Wir hätten das niemals tun dürfen. Nichts weiß ich besser als das, aber dann sehe ich dich an und kann es keine Sekunde bereuen. Das letzte Mal habe ich mich so gefühlt, als Mia und ich zusammen waren.« Er beugt sich vor, schiebt beide Hände in meinen Nacken und küsst mich.

Wir haben uns in den letzten Tagen oft und intensiv geküsst, aber dieser Kuss hat etwas Schmerzliches, weswegen er sich nicht nur gut anfühlt, sondern auch beängstigend. Trotzdem schmiege ich mich an ihn und seufze in seinen Mund. Liams Stoppeln reiben über mein Kinn, seine Zunge taucht tief in meinen Mund ein und seine Lippen pressen sich hart und unnachgiebig auf meine. Verzweifelt versuche ich noch näher an Liam heranzukommen, noch mehr von ihm zu bekommen, aber er bricht den Kuss ab und steigt aus dem Auto, ohne mich anzusehen. Ich spüre deutlich, dass Mark noch immer zwischen uns steht und Liams Kopf sich mit der Situation beschäftigt. Ich wünschte, er würde es nicht tun, obwohl ich weiß, dass er recht hat. Wir müssen eine Lösung finden.

Liam

»Du willst doch nicht etwa so gehen?«, will George von mir wissen, als er in die Küche kommt, in der ich gerade stehe, einen Brief in der Hand, und überlege, ob ich ihn auf den Tisch legen soll oder besser wegwerfen.

Ich werfe einen Blick auf das Display meines neuen Handys. Es ist noch nicht einmal 5 Uhr morgens. Ich hatte gehofft, weg zu sein, bevor George aufsteht, um die Tiere zu versorgen. »Genau das habe ich vor«, sage ich und lege den Brief auf Tessas Platz, damit sie ihn findet, wenn sie später aufsteht. Ich wage es kaum, George in die Augen zu sehen, so unangenehm ist mir das, aber Tessa hat gestern ziemlich deutlich klar gemacht, was wir ab sofort nur noch sind, es wäre also falsch, noch länger zu bleiben. Hier zu bleiben, war in Ordnung, als sie mich aufgenommen hat, weil ich nichts anderes hatte. Aber jetzt habe ich etwas anderes. Zum Angebot des Sergeants zählt auch ein Zimmer auf dem Anwesen, auf dem all seine Männer und ihre Familien leben, damit sie vor Angriffen ihrer Gegner in Sicherheit sind. »Es ist Zeit für mich, ich habe einen Job angeboten bekommen.«

George schnaubt entrüstet, zieht sich einen Stuhl zurecht und setzt sich. Er stützt seinen Kopf schwer auf seine Hände und brummt abfällig. »Du läufst weg«, sagt er trocken. »Das ist alles.«

Ich zucke mit den Schultern. »Das hier ist nun nicht mehr mein Zuhause.« Traurig werfe ich dem Seesack einen Blick zu, der an der Küchentür lehnt und darauf wartet, dass ich mit ihm hier verschwinde. »Uns allen war klar, dass das hier nicht für die Ewigkeit sein würde. Was hast du geglaubt, wie das laufen soll? Sie und ich wohnen unter einem Dach, und das für immer? Ich als ihr Untermieter?«

»Ja, hatte ich gedacht.« George winkt ab. »Wahrscheinlich hast du recht. Es ist nur, ich werd dich vermissen.«

Ich lache auf. »Ich hab jetzt ein Handy, abhörsicher.« Ich reiße ein weiteres Blatt von dem Block ab, auf den ich eben den Brief für Tessa geschrieben habe und schreibe meine neue Nummer auf. »Du kannst mich anrufen, vielleicht komm ich mal vorbei.«

»Wehe nicht«, sagt George, steht wieder auf, faltet das Blatt und steckt es ein, dann kommt er zu mir und zieht mich in seine Arme. »Es hat gut getan, dich hier zu haben, mein Junge.«

»Ja, war schön hier«, sage ich und versuche, nicht zu heulen wie der kleine Junge, an den George sich wohl in diesem Moment erinnert.

Ich löse mich von ihm, packe meinen Rucksack und werfe ihn über meine Schulter. Als ich vor das Haus trete, werfe ich einen Blick nach oben zu ihrem Fenster. Sie hat heute Nacht in ihrem Zimmer geschlafen, weil wir nur noch Freunde sind. Es ist komisch, dass richtige Entscheidungen immer wehtun, aber als sie mir das gestern gesagt hat, war es, als würden sich ihre Worte wie eine Stahlkugel in meine Brust bohren. Und ich weiß schließlich, wie es sich anfühlt, von einer Kugel durchbohrt zu werden. Verdammt, mein Herz rast sogar jetzt noch, wenn ich daran denke.

Wir haben alle beide richtige Entscheidungen getroffen in der letzten Nacht. Sie hat entschieden, dass wir nur Freunde sind, die zufällig auch Spaß am Sex miteinander hatten. Ich habe entschieden, dass ich nicht zulasse, dass sie wie Mia endet. Ich werde nicht noch einmal den Tod einer Frau, für die ich mehr als nur Freundschaft empfinde, verantworten. Mein Herz trommelt mit jedem Schritt, den ich mich von ihr entferne lauter und schneller. Es protestiert, denn es will sie nicht verlassen. Und es bestraft mich mit dem schlimmsten Schmerz überhaupt, der Sehnsucht nach dem Gefühl sie zu halten, sie zu fühlen, ihren Duft zu inhalieren und ihre Augen strahlen zu sehen, wenn sie Kuchen backt. Ich fliehe nicht vor Mark, auch wenn es vielleicht so aussehen mag, ich fliehe vor dem, was ihr zustoßen könnte, wenn sie länger zwischen Mark und mir stehen muss. Einmal ist genug.

Bevor ich unten auf die Straße trete, sehe ich noch einmal zurück. Von hier aus kann man über die Weiden sehen, über denen sich das weiße Farmhaus erhebt. Rechts vom Haus die Scheune und links davon Grandpas Apfelbäume. Dort oben auf dem Hügel haben Mark, Mia und ich im Sommer gezeltet. Mia hatte ihr eigenes Zelt in Pink mit einer angedeuteten goldenen Krone auf der Spitze. Darauf hat sie bestanden, weil sie nicht mit Jungs in einem Zelt schlafen konnte. Am Ende hat sie doch immer bei uns geschlafen.

The Air we breatheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt