Teil 6 (überarbeitet)

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Tessa

»Es fühlt sich komisch an, wieder hier draußen zu sitzen und zuzusehen, wie die Sonne untergeht.«

Liam und ich sitzen auf der Veranda vor dem Haus und starren in den Sonnenuntergang. Seit George uns vorhin verlassen hat, ist es irgendwie komisch zwischen uns geworden. Ich weiß nicht genau, ob es an diesem Kribbeln liegt, das sich wie tausend winzige Insektenbeine auf meiner Haut anfühlt, weil er neben mir sitzt und ich mir so sehr bewusst bin, dass wir alleine sind. Oder an dem Wissen, dass er darauf wartet, dass ich ihm erkläre, was in der Stadt vorgefallen ist. Er hat während des Essens kein Wort gesagt, aber jetzt sind wir allein und ich bin sicher, er wartet darauf, dass ich etwas sage. Das sollte ich auch tun, aber ich fühle mich wie zugeschnürt, weil es nicht leicht ist, jemandem diese Dinge anzuvertrauen. Keinem Fremden, keinem Menschen, den man seit Jahren kennt.

Ich bekomme kaum Luft, als ich in einem Versuch, die ersten Worte aus mir herauszupressen, die Lippen öffne. Und je mehr ich es versuche, desto schlimmer wird das Gefühl, dass etwas Tonnenschweres auf meiner Brust lastet, ich eine Plastiktüte über meinem Kopf habe, oder einen Strick um meinen Hals.

»Der Sonnenuntergang hier ist wunderschön. Ich glaube, deswegen habe ich mich so sehr in diesen Ort hier verliebt«, sage ich stattdessen und diese Worte kommen mir erstaunlich leicht über die Lippen. Weil sie nichts bedeuten. Sie sind belanglos und keine Gefahr für mich. Wegen ihnen kann Liam mich nicht hassen. Es sind einfach nur Worte, wie sie jeder sagt, jeder benutzen würde. Die Worte, die ich ihm eigentlich sagen sollte, deren Bedeutung ist schwer. Und habe ich sie einmal ausgesprochen, können sie zwischen uns alles ändern. Mir macht die Vorstellung Angst, er könnte mich mit anderen Augen sehen.

Liam beobachtet mich, während ich darüber nachdenke, ob ich es wagen kann, ihm zu offenbaren, wer ich wirklich bin. Er sitzt in dem Schaukelstuhl neben mir. Uns trennt nur der kleine weiße Tisch, auf dem unsere Getränke stehen. Liam trinkt ein Bier. Ich trinke selbstgemachte Zitronenlimonade. Liam hat die Beine ausgestreckt, seine Füße stecken in einem Paar Cowboystiefel, er trägt eine alte verwaschene Jeans und ein schwarzes Shirt, das ihm viel zu eng ist. Das ist Kleidung aus seinem Schrank in seinem Zimmer. Bevor er hier weggegangen ist, muss sein Körper deutlich weniger muskulös gewesen sein.

»Erzähl mir von dem, was in der Stadt los ist.« Er wird ungeduldig und das macht mich unglücklich. Ich hatte sehr gehofft, er hätte vergessen, dass er mir gesagt hat, dass er es heute Abend wissen will. Aber wie hätte er das vergessen sollen, nach allem, was er heute erlebt hat.

Ich kneife die Lippen fest zusammen. Darüber reden. Ich weiß nicht. »Dein Shirt ist dir viel zu eng«, stelle ich grinsend fest.

»Ich hatte nicht viel dabei, also musste ich anziehen, was ich im Schrank gefunden habe.« Er grinst und sieht an sich runter, wo der schwarze Stoff des Shirts sich eng um seine Muskeln spannt. »Ich sollte wohl einkaufen fahren.«

»Manchmal sitze ich abends mit George hier draußen. Er trinkt seinen Scotch und ich schreibe an einem Artikel oder einem Buch. Wir reden über die Ranch und wie es früher hier war.«

»George spricht viel von früher. Auch über mich?«

Ich lache leise und nicke. »Ja, ich weiß zum Beispiel, dass Mark und du in der Scheune das Rauchen geübt habt und George euch dabei erwischt hat, wie ihr fast die ganze Scheune in Brand gesetzt habt.«

»Oh ja. Damals waren wir 9?« Er überlegt. »Ja, ungefähr. Mein Hintern tut mir heute noch weh, wenn ich an unsere Bestrafung denke.«

Ich lache laut auf und schüttle den Kopf.

The Air we breatheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt