Teil 5 (überarbeitet)

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Liam

Ich weiß nicht, ob ich wütend oder verwirrt sein soll. Wenn Tessas entrüsteter Gesichtsausdruck nicht so wahnsinnig sexy wäre, dass ich ein Lächeln nicht zurückhalten kann, dann wäre ich wahrscheinlich längst nicht mehr so ruhig. Diese zu einem Schmollen gestülpten vollen Lippen und ihre ein wenig gekräuselte Nase sorgen dafür, dass ich mich schneller beruhige, als mir im Moment lieb ist. Mir wäre es nämlich viel lieber, ich würde mit brennender Wut im Magen zu Harry rübergehen.

Harry kann man nur entgegentreten, wenn man ihm auf gleicher Höhe begegnet. Die Wut, die er in meinem Fall empfindet, verstehe ich sogar. Ja, ich habe sie verdient. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand so wundervolles wie Tessa Carmichael seine Wut verdient hat.

Ich greife wieder nach Tessas Hand – das Gefühl, sie zu halten, ist viel zu intim, aber ich will ihr mit dieser Geste Mut machen, und vielleicht auch ein wenig mir.

»Gehen wir«, sage ich aufmunternd. »Wie magst du dein Steak?«

»Gut durch und mit Bohnen«, sagt sie, wirft mir einen kurzen Seitenblick zu und presst dann die Lippen fest aufeinander, als hätte sie eben einen Entschluss getroffen.

Ich bemerke, wie sie die Schultern strafft und das Kinn trotzig nach vorne reckt, so als wolle sie schon aus der Ferne jeden davor warnen, sie auch nur schief anzusehen. Ich weiß nicht, ob ich Mitleid mit ihr haben soll, oder ob ich sie bewundern soll, für die Stärke, die sie ausstrahlt, obwohl ich sie zu etwas zwinge, das ihr offensichtlich unangenehm ist.

Wir treten in die Drehtür, damit sie nicht weglaufen kann, ziehe ich sie mit in mein Abteil, und für wenige Sekunden sind wir uns in der Enge so nah, dass ich den fruchtigen Duft ihrer Haare einatmen kann und ihren Rücken an meiner Brust spüre. Ich lege einen Arm um ihre Mitte und rede mir ein, dass ich es tue, um sie vor einem Sturz zu bewahren, aber ich tue es, um sie zu spüren. Es ist wie ein Zwang, der mich dazu treibt, sie zu berühren. Und ich will sie nicht nur berühren, ich will sie auch beschützen. Nicht nur vor Harry und den Bewohnern dieser Stadt, sondern vor einfach allem, was sie bedrohen könnte. Die Enge in der Drehtür ist die beste Ausrede, um das hier zu tun. Und nach nur zwei Atemzügen ist es auch schon vorbei und sie kann sich nicht schnell genug von mir lösen.

Mit leicht geöffneten Lippen und gehetztem Blick sieht sie kurz zu mir auf, dann blickt sie sich im Supermarkt um.

Harry's ist nicht besonders groß, aber für eine so kleine Stadt wie Glenwood ungewöhnlich groß. Das liegt daran, dass hier in der Gegend früher viel mehr Menschen gelebt haben. In einem anderen Markt einer Stadt dieser Größe bekäme man wohl nur das Notwendigste. Nicht so in diesem. Hier bekommt man so gut wie alles, sogar so moderne Sachen wie Mobiltelefone. Harry war schon immer wichtig, selbst die Dinge auf Lager zu haben, die man gewöhnlich nur sehr selten braucht. Er will, dass Glenwood auf jeden Notfall vorbereitet ist. Harry rechnet immer mit irgendeiner Katastrophe: die Russen fallen über uns her, die Terroristen vergiften das Wasser, die Zombies steigen aus ihren Gräbern. Egal was, in Glenwood hat man wohl gute Chancen zu überleben. Notfallpakete für den Ernstfall gibt es in allen Größen.

»Also dann, Steaks«, sage ich und ziehe Tessa auf die Fleischtheke zu, die sich im hinteren Bereich des Ladens befindet. Hier ändert sich nie etwas, nicht solange ich denken kann. Der Grund dafür ist der gleiche wie der für die umfangreiche Ausstattung des Markts. Harrys Kunden sollen im Notfall genau wissen, wo sie was finden. Das können sie nicht, wenn er ständig umräumt, so wie die großen Ketten, die mit diesem Verwirrspiel ihre Kundschaft dazu treiben wollen, mehr als nötig zu kaufen, während sie auf der Suche nach den Dingen sind, die sie eigentlich kaufen wollen.

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