+ Kapitel 5.3: My Everything +

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„(S)he holds your hand, you hold my everything" (Alex Vargas - Solid Ground)


Es war jetzt also soweit, es war Zeit. Das 5-Millionen-Abonnenten-Special hatte begonnen. Bilder, Menschen, YouTuber, Fans. Und ich? Irgendwie mitten drin.
Ich wusste gar nicht so wirklich, wie ich hier her gekommen war. Irgendwann war ich einfach da gewesen, wurde von irgendjemanden geschnappt und sofort in den Backstagebereich geleitet, wo schon alle Helfer von gestern saßen und quatschten und irgendwie hatte ich den ersten Teil des Tages hier verbracht. Mehr für mich alleine als mit den anderen, aber ich war trotzdem integriert. Man gab mir etwas zu trinken, man gab mir etwas zu essen und doch saß ich die meiste Zeit einfach da, hatte einen Zeichenblock plus Stift in die Hand bekommen und zeichnete vor mich hin. Das, was ich am besten konnte. Das, was mir am meisten Spaß machte. Und ich zeichnete vor allem die Menschen, die hier noch saßen, sodass ich auch genug Motive hatte. Und so, wie ich das mitbekommen hatte, würden die Bilder später auch noch verlost werden, sodass ich mich nicht beschwerte und weiter vor mich hin zeichnete. Ich war hier hinten glücklich. Ich war mit Menschen, die ich kannte. Ich hatte mir was Gutes zu trinken genommen - auch wenn ich die Flasche Sekt hier alleine trank - und ich wurde von den vielen Besuchern oder auch Fans in Ruhe gelassen, konnte mich erst mal an alles gewöhnen und mich auf später vorbereiten, denn... später würde ich noch viel zu viel Kontakt mit allen da draußen kommen. Mit den kreischenden Fans, die sich so sehr freuten, hier zu sein. Und die all meine Bilder sahen, mich aber gar nicht so kannten. Und ich wusste nicht, ob es gut war, dass wir uns gegenseitig wirklich kennenlernten...


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Mit nervösen Schritten lief ich den unebenen Hinterhof entlang, um schlussendlich vor dieser großen, schweren Tür stehen zu bleiben. Ich sollte durch die Hintertür kommen, damit ich nicht anstehen musste, hatte Florian mir gesagt und so war ich jetzt hier.
Tief durchatmend holte ich dann mein Handy hervor und wählte Flos Nummer. Ich sollte ihn kurz anklingeln, damit er Bescheid wusste und ich hier abgeholt wurde, um dann in den Backstagebereich gebracht zu werden. Und irgendwann, wenn Flo sich von seinen Fans loseisen konnte, dann würde er mir vielleicht alles zeigen. So war jedenfalls der Plan gewesen.
Inständig hoffte ich, dass mich irgendeine bekannte Person abholen würde. So wie Max oder Vanessa oder Fabi oder Steven, einfach damit die Situation nicht ganz so komisch wurde. Ich staunte dann aber nicht schlecht, als sich die Hintertür öffnete und Florian selbst mir entgegen lächelte.
Er sah gut aus, so fit und mit so wenigen Augenringen und unfassbar gut drauf. Glücklich.
„Ina! Ich freu mich, dass du gekommen bist!", begrüßte er mich und zog mich im nächsten Moment in eine herzliche Umarmung, die ich ein wenig zu steif erwiderte, weil ich damit einfach nicht gerechnet hatte. Er schien verdammt glücklich zu sein gerade.
„Ich freu mich auch. Aber du verwirrst mich. Müsstest du nicht irgendwie unter den Menschen sein und belagert werden?", wollte ich dann von Flo wissen, während ich ihm ins Innere des Gebäude folgte.
„Konnte mich kurz von denen befreien, auch wenn's schwer war. Ich schreib schon seit ein paar Stunden Autogramme und brauchte eh ne kurze Pause und was Neues zu trinken. Und es ist ja eh bald vorbei", erwiderte er dann und ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Es war tatsächlich schon erstaunlich spät. „Du siehst übrigens umwerfend aus. Du hast das Kleid immer noch?", warf er dann noch ein, so ganz beiläufig, und mein Herz stolperte über seine Worte.
„Als ob ich das wegschmeißen könnte", meinte ich so nur ein wenig erstaunt und er nickte langsam, während sein Lächeln breiter wurde.
Es war eines dieser besonderen Kleider, das ich so oft getragen hatte, wenn ich mit Florian unterwegs gewesen war. Und auch nur dann. Es war eines dieser Kleidungsstücke, die mehr mit Personen und Geschehnissen verwoben waren als andere.
„Gut. Willst du mitkommen zu den anderen? Sie freuen sich bestimmt, dich zu sehen. Und ich würde dich dann vielleicht ganz kurz dort lassen, während ich die letzten Autogramme schreibe und dann die Tombola mache?", wollte er wissen, während wir schon bei den ‚anderen' angekommen waren. Eine ganze Reihe an Menschen saß dort in diesem improvisierten Backstagebereich und es war wirklich, wirklich merkwürdig, einige von ihnen nach so langer Zeit jetzt wieder zu sehen.
„Ina!", hörte ich dann auch sofort jemanden auf mich einreden und wurde im nächsten Moment in eine Umarmung gezogen. „Wie geht's dir? Toll siehst du aus!", redete Frodo immer weiter auf mich ein und reichte mich dann an seine Freundin weiter, die mich auch in ihre Arme schloss, bevor ich auch all die anderen begrüßte, wenn auch weniger überschwänglich.
„Mir geht's gut, danke", erwiderte ich ein wenig zeitversetzt und sah dann zu Flo hinüber.
„Super. Kann ich euch mit Ina alleine lassen? Da vorne erwartet man mich", redete Flo dann auf die anderen ein, ließ mich dabei aber nicht aus den Augen.
„Ganz ruhig, Floid. Wir machen sie schon nicht kaputt, jetzt hau ab", verdrehte Max aber nur lächelnd die Augen, bevor er einen Arm um meine Schultern legte. „Sie ist hier in bester Gesellschaft."
Und so ließ sich Flo nach einem kurzen Blickaustausch wirklich überzeugen und ging seufzend wieder zurück nach vorne zu seinen Fans, die doch heute nur wegen ihm da waren. Oder für ihn. Oder wie auch immer.
„Du bist bestimmt Ina? Darf ich dich zeichnen?", wurde die kurz entstandene Stille durchbrochen und ich drehte mich erschrocken um. Die Person hatte hier eben noch nicht gestanden, war gerade erst dazu gekommen. Und das war sie wahrscheinlich, diese Thea. Das Herzstück dieses Abospecials. Die Person, mit der Florian die letzten Monate die meiste Zeit verbracht hatte. Die Person, mit der er versucht hatte, sich eine neue Zukunft aufzubauen, ohne aber von seiner Vergangenheit losgekommen zu sein. „Ich bin übrigens Thea, freut mich. Ich hab den Großteil der Bilder erstellt. Okay, alle bis auf eines, das hat Florian selbst gemalt, hast du es schon gesehen? Und darf ich dich zeichnen? Du siehst in diesem Licht super interessant aus", redete sie dann einfach weiter und setzte sich zurück auf ihren Platz, jedenfalls sah das nach ihrem Platz aus. Überall lagen zerknüllte Zettel und angefangene Zeichnungen herum. Neben einer halbvollen Flasche Sekt und einer leeren.
„Thea? Hast du zu viel getrunken?", brachte auch Max diesen Seitenhieb und ich musste leicht lächeln. „Und willst du Ina nicht vielleicht erst mal ankommen lassen? Und sich ein Getränk nehmen lassen?", machte er dann weiter und ich nickte ihm dankbar zu, bevor ich mir einen Platz suchte und mich versuchte, wieder in diese Gruppe hier zu integrieren. Damals war es mir am Anfang auch nie so wirklich leicht gefallen, irgendwann hatte es aber so gut geklappt und es war schade, dass mir diese Menschen leider wieder fremder geworden waren.
„Ich will keine Umstände machen!", brachte ich dann über mich, als Max aufgesprungen war und mir alle möglichen Sachen zum Trinken anbot.
„Ach was, was für Umstände? Das Special ist gleich eh vorbei und solange Flo noch vorne bei den Fans ist, musst du dich mit uns und der Künstlerin begnügen. Und um mit Thea klar zu kommen, brauchst du erstmal was zu trinken", ärgerte er diese junge Frau weiterhin, die sich aber nicht davon angegriffen zu fühlen schien.
„Pass mal auf, Hobbit! Wenn du so weiter machst, kriegst du dein Bild doch nicht mehr", drohte sie nur und Max seufzte leise, bevor er mir eine Mate reichte und sich wieder auf das Sofa hier fallen ließ.
„Dass ist es mir dann doch nicht wert, dafür zeichnet sie einfach viel zu gut", raunte er mir zu, bevor er sich auf der andere Seite weiter unterhielt und mein Blick wieder zu Thea glitt.
Sie sah sympathisch aus, mit ihrem breiten Lächeln auf den Lippen und ihrer unkonventionellen Frisur, mit dem Blumenkranz, und dem Kleid, das so unfassbar fehl am Platz wirkte. Aber sie wirkte, so rein vom ersten Eindruck, eigentlich ziemlich nett. Und ich wusste nicht wirklich, wie ich damit umgehen sollte. Ich wollte doch eigentlich sauer auf sie sein, ich wollte sie einfach ignorieren und sie aus meinem Leben schieben und ich wollte sie ganz sicher nicht nett finden.
„Darf ich dich nun zeichnen?", riss mich diese Künstlerin im nächsten Moment aus meinen Gedanken. Sie schien wohl bemerkt zu haben, dass ich sie angeschaut hatte.
„Meinetwegen", kam es mir dann über die Lippen und ich war selbst von meiner Antwort verwirrt, aber ich ruderte auch nicht mehr zurück.
„Super. Magst du vielleicht in Flos Richtung schauen, so ein wenig seitlich? Dauert auch nicht lange und du darfst auch reden, aber es wäre super, wenn du dich nicht zu viel bewegst", erklärte sie mir.
„Okay", murmelte ich und folgte ihrer Anweisung. Mein Blick war auf Flos Rücken gerichtet. Er unterhielt sich angeregt mit seinen Fans und unterschrieb Autogrammkarten und es schien ihm so unfassbar blendend zu gehen, dass ich lächeln musste.
„Das kannst du gerne behalten, das Lächeln. Und wenn ich jetzt mehr ich wäre, würde ich wohl anfangen, mich mit dir zu unterhalten. Redebedarf hätten wir auf jeden Fall, nach all dem, was wegen Flo passiert ist, aber ... ganz ehrlich? Das wäre glaube ich im Moment nicht die beste Idee. Ich will Flos Special nicht zerstören, da hat er so lange drauf hingearbeitet. Also können wir einfach so tun, als wären wir einfach zwei normale Menschen ohne jegliche Vorgeschichte. Und wenn wir wollen, gehen wir uns wann anders an die Gurgel?", redete Thea dann leise auf mich ein und ihre Worte erstaunten mich immer mehr. Sie sagte das ohne jegliche Regung in ihren Augen, sie blickte mich einfach an, mit diesem Lächeln, von dem ich nicht wusste, ob es wirklich echt war, und ich konnte nur langsam nicken, bevor ich mich wieder Flo zudrehte.
„Gerne", hauchte ich leise und ließ mich dann einfach weiter zeichnen.
Sie hatte ja recht.

Das Blumenmädchen (LeFloid)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt