+ Kapitel 1.5: Und schlafen is' nicht +

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„Und die Nacht, ja die Nacht, die ist bald vorbei, und schlafen is' nicht." (Madeline Juno – Beweg mich nicht)


Ich war wach. Wie lange ich wach war, wusste ich nicht. Nur, dass es lange war. Zu lange. Ich konnte mich nicht daran erinnern, heute überhaupt schon mal geschlafen zu haben.
Zum achtzehnten Mal innerhalb weniger Stunden drehte ich mich auf die andere Seite und starrte nun die andere Wand des Schlafzimmers an. Ich lag wie immer auf meiner Seite des Bettes, dort, wo ich früher auch immer gelegen hatte, als Ina noch da gewesen war, als noch alles gut gewesen war. Bevor ich es vermasselt hatte, bevor alles irgendwie anders wurde. Eins war jedoch geblieben: Auch damals hatte ich schon nicht gut geschlafen, konnte nie zur Ruhe kommen, nie meine Augen schließen und abschalten... Aber immerhin hatte ich da noch meine fünf Stunden gekriegt. Seit Ina aber weg war, war mein Schlafrhythmus komplett hinüber. Mal schlief ich, mal schlief ich nicht, mal wachte ich sieben Mal in der Nacht auf, manchmal lag ich komplett wach und dachte nach. So wie heute.
‚Er ist tot und er wird nie mehr wiederkommen.'
Immer und immer wieder wiederholten sich Theas Worte in meinen Kopf. Sie wurden lauter und dröhnender, hielten mich vom Schlafen ab.
„Hör auf", murmelte ich, doch ihre Stimme wurde nicht leiser, im Gegenteil. Je mehr ich über das Geschehene nachdachte, desto schlimmer wurde es. Was auch immer sie da mitmachen musste, es schien sie in ihren Grundfesten erschüttert zu haben. Und es tat weh, jemanden so zu sehen. Das machte mein Pädagogenherz nicht mit...


~ „Flo, nimm es dir nicht so zu Herzen", hörte ich Inas Worte an meinem Ohr. Ihre Arme schlangen sich um meinen Hals und im nächsten Moment spürte ich ihre Lippen an meiner Schläfe. Es war das, was sie immer tat, um mich zu beruhigen. Es klappte ja auch verdammt gut...
„Nicht so zu Herzen nehmen? Ich hätte helfen können!", murmelte ich seufzend und drehte mich zu ihr um. Ich hatte ihr, nachdem ich aus der Schule raus war, eine Nachricht geschrieben. Wie in den letzten Tagen hingen meinen Gedanken oft bei diesem Jungen. Und ich hatte Ina oft um Rat gefragt. Doch auf die heutige Nachricht hatte sie nicht direkt geantwortet. Das würde sie jetzt nachholen. Sie war kein Mensch dafür, wirklich wichtige Dinge übers Handy zu klären.
„Hey, ganz ruhig, Florian", hauchte sie, während sie sich auf meinen Schoß ziehen ließ. „Es ist nicht deine Schuld. Du hast versucht, ihm zu helfen. Es war ganz alleine seine Entscheidung, die Schule doch zu schmeißen und abzuhauen. Du hast versucht, ihn vor dem Scheiß zu bewahren, aber du kannst nicht jedem helfen, so gerne du das auch willst. Er wird seinen Weg auch so finden", erklärte sie mir leise, doch ich konnte ihr nicht glauben.
„Ich hätte besser auf ihn eingehen sollen, nochmal das Gespräch suchen sollen", fing ich an, sie schüttelte aber nur den Kopf.
„Das hätte nichts gebracht, das weißt du selbst. Wenn sich jemand in irgendetwas verrannt hat, ist es nicht so einfach, ihn wieder davon abzubringen. Es ist NICHT deine Schuld", wiederholte sie und ich seufzte, wie schon so oft in den letzten Stunden. Ich hatte diesen Jungen im Stich gelassen. „Aber nun komm mit ins Bett, es ist spät, du musst schlafen."
„Ich komm gleich", antwortete ich, Ina nickte nur skeptisch. Wir beiden wussten, dass das gleichbedeutend war mit ‚Ich weiß nicht, ob ich das kann und heute noch ins Bett gehen werde.' Aber es war okay für sie. Das hoffte ich jedenfalls. ~

Kopfschüttelnd setzte ich mich auf. Es war 6.30 Uhr. Und da ich eh nicht mehr schlafen konnte, nicht bei den ganzen Gedanken, die durch meinen Kopf rasten, konnte ich auch aufstehen. Aufstehen, Kaffee trinken und mir überlegen, wie ich Thea helfen konnte und mit ihr umgehen sollte.


„Ich will nicht darüber reden, Florian", seufzte Thea und ließ die Luftpolsterfolie sinken. Nachdem wir gestern einfach aufgehört hatten und sie alleine sein wollte, war heute der Plan, mit dem Einpacken fertig zu werden. Sie hatte nicht gefragt, ob ich wieder helfen würde, und die Tatsache, dass ich es tat, als ich um 10.17 Uhr mit einer Tüte Brötchen und anderen Sachen in der Hand vor ihr stand, schien sie sehr überrascht zu haben. Ihre Augen, die vorher diesen verzweifelten Glanz hatten, wurden ruhiger. Ich war auf dem richtigen Weg.
Dennoch hatte sie nicht viel gegessen. Ein Brötchen mit ein wenig Marmelade, das war's gewesen. Sie hatte keinen Hunger, hatte sie gemeint. Wie sie anscheinend nie richtig Hunger hatte und immer zu wenig aß. Und sie sah sie ziemlich fertig aus, blutunterlaufene Augen, herabhängende Schultern. Nichts von der dauerfröhlichen Thea war mehr zu sehen. Auch die zwei leeren Rotweinflaschen, die sich nun zu den anderen gesellt hatten, verhießen nichts Gutes.
„Anthea, es tut mir leid. Wirklich. Es ist nicht meine Absicht, dich irgendwie zu verletzten. Aber...", wollte ich beginnen, doch sie schüttelte den Kopf.
„Das ist keine gute Idee, Florian", murmelte sie und sah mich weiterhin so an, wie sie mich auch die letzten Stunden angeschaut hatte. Verletzt, verzweifelt, verwirrt.
„Wieso nicht? Wo ist die lebensfrohe Thea von gestern hin? Wir sitzen hier seit 10 Uhr und du hast gefühlt nur drei Worte gesagt... Ich weiß, du kennst mich nicht, aber ich möchte dir nur helfen", murmelte ich und seufzte.
„Was denkst du, wie ich bin? Was denkst du, wer ich bin? Was denkst du über meinen Charakter?", wollte sie dann wissen und sah mich direkt an. Ich schluckte.
„Das ist nicht so einfach", erwiderte ich und musterte sie. „Du bist sehr zwiegespalten", setzte ich noch hinzu und sie nickte nachdenklich.
„Was für Persönlichkeiten habe ich denn?", wollte sie weiter wissen und ich holte Luft. Sie hatte es ja nicht anders gewollt, vielleicht würde ich sie so ein wenig aus der Reserve locken können...
„Da ist einmal natürlich die ‚Normalo-Thea', ein junges Ding mit Träumen in der Mitte der 20er, mit Verantwortungssinn, Selbstbewusstsein, wo sich alles die Wage hält, mit einer immensen Vielseitigkeit und Lebensfreue, immer mit einem Lächeln auf den Lippen und einer Zuversicht, die einem glatt den Boden unter den Füßen wegreißen könnte", begann ich mit meinen Einschätzungen. „Dann gibt es da auch die, ich nenne sie mal die ‚Kreativ-Thea', die irre Künstlerin, die von ihrer Kunst nicht genug kriegen kann und alles dafür opfert. Die komplett in ihre eigene Welt abtaucht und ich schätze, wenn du mal so richtig vertieft bist, dann ist es schwer, zu dir durchzudringen, oder?", wollte ich wissen und Thea nickte nur. „Und ich wette, es gibt sicher auch noch die ‚Studier-Thea', die sich dann, wenn sie das alles nicht all zu sehr ankotzt, wirklich reinhängt, zu den Vorlesungen geht und mit Liebe ihre Projekte angeht", setzte ich schmunzelnd hinzu, doch das erhoffte Lächeln, dass ich von ihr erwartete, blieb aus. „Und zu guter Letzt ist da die ‚zerbrechliche Thea'. Die Thea, die zu wenig isst und ihre Probleme in Rotwein ertränkt. Die niemanden an sich heran lassen will, mit Nervenzusammenbrüchen und mehr Stress, als ihr gut tut", endete ich leise und beobachtete sie, wartete auf eine Reaktion ihrerseits.
„Und was denkst du: Welche Thea bin ich gerade?", wollte sie aber nur wissen und ich sah sie an. War diese Frage ernst gemeint?
„Die letzte", erwiderte ich und Thea nickte nur.
„Du hast mich gerade ziemlich gut zusammengefasst, Florian. Man merkt, dass du Psychologie studierst, du hast eine herrliche Auffassungsgabe und kannst Menschen erstaunlich gut einschätzen. Aber gerade dann solltest du wissen: Wenn ich eine dieser Theas bin, dann bin ich eine dieser Theas! Schluss, Aus, Ende! Und nur weil du es unbedingt versuchst, wird sich das dann so schnell auch nicht ändern. Also entweder lässt du mich dann einfach so weitermachen, wie ich es immer getan habe, oder du lässt mich gleich in Ruhe. Wenn ich male, male ich und werde wahrscheinlich auch nicht auf dich reagieren. Wenn ich in der Uni bin, bin ich in der Uni und werde dich wahrscheinlich auch ignorieren und mich auf meine Sachen konzentrieren. Und wenn ich deprimiert bin, dann bin ich das. Ich kann das nicht ändern, Florian. Und nur, weil du mir unbedingt helfen willst, nur, weil du mich auserwählt hast, um dir selbst bei deinen anscheinend riesigen Problemen zu helfen, heißt das nicht, dass ich deine Hilfe will", erwiderte sie und ich erstarrte. Bam, voll in die Fresse... Sie traf mit ihren Worten direkt ins Schwarze. Und ich konnte sie nur perplex anstarren. Woher hatte sie das denn jetzt erraten? Denn ja, ich hatte sie auserwählt, um mir selbst zu helfen. Genau das tat ich wohl, ich lenkte mich von meinem eigenen Leben ab, machte sie zu meinem Projekt, um nicht vollkommen durchzudrehen....
„Und du hast eine bessere Auffassungsgabe als ich dachte", murmelte ich zurück und seufzte.
„So jung und naiv bin ich auch nicht mehr, auch wenn ich noch so aussehe", erwiderte Thea und zum ersten Mal, seit dem der Tag mit ihr begonnen hatte, lächelte sie. Ehrlich.
„Anscheinend doch, haste gesehen, du hast gelächelt! Also bist du gerade sehr wohl ziemlich naiv auf meine psychologischen Tricks reingefallen", grinste ich sie nun an und auch ihr Lächeln wurde breiter.
„Verdammt", erwiderte sie nur und sah mich dann weiter an, ihr Blick wurde weicher, ihre Augen waren nicht mehr so gehetzt.
„Danke, Florian", setzte sie noch hinzu und ich legte den Kopf schief.
„Danke?", hakte ich nach und sie nickte.
„Dass du mir hilfst, auch wenn ich die Hilfe nicht will. Dass du dir damit selbst hilfst. Und dass du da bist."

Das Blumenmädchen (LeFloid)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt