„Cause everywhere we've been, we have been leaving traces, they won't ever disappear." (BOY – We were here)
Unsicher lief ich vor dem Wohngebäude auf und ab und schaute nach oben. Sollte ich klingeln? Oder sollte ich lieber ganz schnell das Weite suchen und endlich mal was schaffen? Es war doch totaler Schwachsinn, einer wildfremden Person...
„Morgen, Flo. Ich freu mich echt, dass du gekommen bist", hörte ich eine mittlerweile wohlbekannte Stimme hinter mir und ich drehte mich erschrocken um. „Ehrlich", setzte sie hinzu und kam einen Schritt auf mich zu, um mich in eine Umarmung zu ziehen. Was zur Hölle?
„Morgen", brachte ich so nur verwirrt heraus und ließ Thea einfach weiter auf mich einreden.
„Hast du schon gefrühstückt? Hast du Durst? Ich hab eben ne riesen Ladung Kaffee angesetzt, bevor ich nochmal los musste. Und davon kriegst du gleich erstmal ne riesige Tasse und dann siehst du bestimmt wieder ein wenig glücklicher aus. Du musst mir aber auch gar nicht helfen, wenn es dir nicht gut geht. ... Und es tut mir wirklich leid, wenn ich aufgeregt bin, rede ich zu viel", seufzte sie dann, war im nächsten Moment aber wieder der strahlendste Stern am Himmelszelt. Unglaublich, so viel gute Laune in einem Menschen vereint. Und dann noch um diese Uhrzeit. Müsste sowas nicht verboten sein?
„Kaffee klingt gut. Hab mal wieder kaum geschlafen", murmelte ich und folgte ihr die Treppenstufen nach oben.
„Mal wieder? Klingt ja nicht so gesund", stellte sie fest und ich seufzte. Ich sollte wohl in ihrer Gegenwart auf meine Wortwahl achten.
„Ist ein wenig stressig im Moment. So ein Umzug ist eine super Abwechslung, um mal wieder was anderes zu tun", erwiderte ich so aber nur und nahm dankend die große Tasse dampfenden Kaffee entgegen. „Was kann ich tun?", wollte ich dann wissen und nippte ein wenig wacher an meinem schwarzen Gold. Allein der Geruch von Kaffee hatte schon einen immensen Einfluss auf meine Laune.
„Luftpolsterfolie nehmen und versuchen nicht die ganze Zeit herumzuploppen. Ich weiß, es ist schwer, und die Reste können wir nachher auch verploppen, aber erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Gefühlte siebentausend Bilder müssen sicher verpackt werden. Die Hälfte wird sowieso erstmal eingelagert, von daher packen wir einfach mal alle ein", lächelnd warf sie mir eine Rolle Paketklebeband zu, das ich etwas unbeholfen auffing. Thea rollte dann schon mal die riesige Rolle Luftpolsterfolie auf dem Boden aus, um das erste Bild darin zu verpacken.
Es war eine mühsame Arbeit. Zurechtschneiden, einwickeln, festkleben, beschriften und dabei nichts kaputt machen. Mühsam und ziemlich eintönig, wie wir hier so saßen, seit mehreren Stunden, während die Bilder nicht weniger zu werden schienen. Ab und an fragte ich sie, was für ein Bild ich da eigentlich verpackte, und ich hörte ihr gerne beim Reden zu. Dann musste ich immerhin nicht so viel sagen.
„Das, was du da gerade in der Hand hast, ist noch sehr neu. Einen Monat oder so alt. Hab ich in einer Nacht durchgemalt und mal wieder nicht geschlafen. Das sind die Treppenstufen im Mauerpark. Ich hab das Design des Graffitis ein wenig abgeändert, blumiger gemacht, unpassender, verquerer. Ich mag es, wenn Sachen nicht wirklich zueinander passen, aber dennoch ein gutes Gesamtes bilden. Und ich male gerne Berlin. Ich bin viel unterwegs, skizziere Menschen, Gebäude, Natur, was auch immer mir vor meine Augen kommt. Ich sauge alles in mich auf, bis ich mich dann hinsetze und es so verändere, bis es perfekt ist. Es fehlen mehr Blumen in der Stadt, mehr Wagnis, mehr Abenteuer. ... Es klingt vielleicht bescheuert, aber manchmal wünschte ich, das Berlin auf meinen Bildern wäre echter als das Berlin vor meiner Haustür", sie wirkte verträumt und in Gedanken, das hatte ich in den letzten Stunden schon häufiger erlebt. Nicht die fröhliche, allseits gut gelaunte Thea, die nie ohne Lächeln auf den Lippen oder gute Laune anzutreffen war. Es war mehr so die Künstlerin, die wirre, verrückte Künstlerin, die von ihrer Kunst nicht genug kriegen konnte. Und ich fand das vollkommen faszinierend.
„Erzähl mir mehr, was gefällt dir an Berlin nicht?", hing ich so nur an ihren Lippen und wollte mehr wissen. Mehr von ihren Ideen und Visionen, mehr von ihrer Kunst.
„Was mir an Berlin nicht gefällt? So gut wie alles. Es ist so gehetzt, so anonym, so unglaublich zugemüllt, so voller Idioten, so wirr, so kompliziert, aber dennoch ist es mein Berlin. Ich würde es nie übers Herz bringen können, jemals von hier weg zu ziehen. Also male ich es mir so, wie ich es haben will. Mein perfektes Berlin. Naja, mehr oder minder perfekt. So perfekt, wie ich es mir konstruieren kann", erklärte sie und funkelte mich dabei ab. Eine schöne Vorstellung, seine Welt so zu gestalten, wie sie einem gefiel...
„Was kriegst du denn für so ein Bild?", wollte ich dann wissen und zeigte wahllos auf irgendeines ihrer Kunstwerke.
„Dafür würde 440 € verlangen", antwortete sie ziemlich abgebrüht und ich schaute sie skeptisch an.
„Bitte was? Für ein einfaches Bild?"
„Ich würde so viel verlangen, aber ob das dann noch jemand kauft. ... Es ist ne besondere Leinwand, 1,20 mal 1,20. Ich hab dafür circa 50 Euro bezahlt. Rechne da noch die Farben drauf, die waren auch nicht ganz so billig, so um die 50 Euro. Dann erst mal Honorar circa 100 Euro. Und die restlichen 240 Euro rechne ich als Stundenlohn. 16,5 Zeitstunden Arbeit. Sind circa 15 Euro pro Stunde. Das kann man bei so ner Qualität schon verlangen. Und auch wenn's eingebildet klingt, 440 Euro sind da schon gerechtfertigt. Und irgendwie muss ich meinen Lebensunterhalt auch finanzieren. So ein Bild verkaufe ich aber auch nicht jeden Tag. Von daher... Sonst halte ich mich mit Bildern unter 100 Euro über Wasser", sie stockte kurz, zeigte dann auf ein Bild in der anderen Zimmerecke. „Das da zum Beispiel hat schon nen Interessenten, 84 Euro möchte ich", es war ein kleines Bild, 40 mal 40, aber es gefiel mir.
„Krass", murmelte ich und betrachtete dann wieder das Bild in meiner Hand. Die Treppenstufen im Mauerpark. „Und das hier?"
„Erst mal nicht verkäuflich. Mal sehen, ob ich meine Meinung noch ändere... Weißt du, manchmal wünschte ich, ich könnte einfach nur malen, ohne ans Geld denken zu müssen. Okay, wenn ich wirklich wollte, dann würden mir meine Eltern alles bezahlen, aber ein wenig Stolz hab ich dann auch noch", seufzte sie und klebte den letzten Klebestreifen um das Bild. „Die Hälfte wäre damit geschafft. Und wir haben nur drei Stunden gebraucht", stellte Thea dann begeistert fest und lehnte sich ein wenig zurück.
„Nur?", entgegnete ich erschöpft und schaute auf das Werk vor uns. Ihre Wohnung war zwar groß, aber ich hatte auf den ersten Blick nicht einschätzen können, wie viele Bilder hier doch rum standen. Und dann musste ich mich auch noch zusammenreißen und dem Drang widerstehen, die ganze Zeit rumzuploppen.
„Stell dich mal nicht so an, wir können ja auch erst mal ne Pause machen. Kann ich dir irgendwas anbieten? Mehr Kaffee? Was anderes zu trinken? Ansonsten kannst du auch mal selbst schauen", entgegnete Thea und ließ sich nach hinten auf den Boden fallen. Auch sie sah ein wenig fertig aus, aber noch lange nicht so schlimm wie ich.
„Ich darf einfach in deinen Schränken rumwühlen?", fragte ich verwirrt, stand aber nach einem Nicken ihrerseits auf und machte mich auf den Weg zu ihren Schränken. Ich hatte Hunger.
Und so öffnete ich eine Tür nach der anderen. Die meisten ihrer Schränke waren leer, sie hatte wenig Geschirr, wenige Töpfe, wenige Kochutensilien. Sie...
„Anthea La Flore?", hörte ich hinter mir Theas Stimme und drehte mich erschrocken um. „Ach, hey, du bist es!", redete sie dann weiter und ich realisierte, dass die gerade telefonierte.
Das war also ihr Name? Anthea La Flore? Das klang ... ganz schön over the top.
Kopfschüttelnd widmete ich mich wieder meinem Problem Hunger zu haben und riss die nächste Schranktür auf. Und als ich dann sah, was auf den Brettern stand... Neben einem Paket Kaffee stapelten sich viele Schokoladentafeln übereinander, nach Geschmacksrichtungen sortiert und ordentlich aufgereiht.
Eine Anthea la Flore mit 17 Packungen Schokolade in ihrem Schrank? Worauf hatte ich mich da nur eingelassen?
„Alles okay?", hörte ich eine Stimme an meinem Ohr und fuhr erschrocken herum, atmete tief und schnappend ein, um mich von diesem Schock zu erholen. Thea stand genau hinter mir.
„Serienmörder?", hauchte ich nur und sah sie perplex an. Gegen so viele schrägen Sachen war ich nicht gewappnet.
„Nein, damit kann ich nicht dienen. Aber ja, ich heiß echt so. Und ja, ich habe anscheinend nur noch Schokolade und Rotwein im Haus", entgegnete sie und nahm einen Schritt Abstand, bevor sie sich ein Glas aus dem Schrank nahm und sich ein wenig Wasser einschenkte.
„Anthea", nickte ich nur und wiederholte ihren Namen nochmal.
„Anthea La Flore. Ist nicht von schlechten Eltern, oder? Auf jedenfall nicht so 08/15 wie viele andere, einprägsam. ... Und vollgestopft mit Blumen", grinste sie mich an und lehnte sich an ihre Kuchenzeile, um mich zu betrachten. „Ich laufe in der Szene meist auch unter dem Namen ‚Blumenmädchen'. La Flore kannste dir ja denken und Anthea bedeutet ‚die Blumengöttin'. Meine Mutter hatte, nein, sie hat immer noch einen ziemlichen Faible für Blumen und Pflanzen. Hat aber abgefärbt", erklärte mir Thea weiter und schien das ganz und gar nicht schlimm zu finden. „Ist ja aber auch nur ein Name. Und wenn er mir nicht gefallen würde, hätte ich mir schon längst ein Pseudonym zugelegt."
„Anthea... gefällt mir aber. Hast du noch andere Spitznamen als Thea?", wollte ich wissen und wandte meinen Blick wieder der jungen Frau vor mir zu, nachdem ich mich endlich beruhigen konnte.
„Ich hatte mal einen, ist etwas länger her. Mein damaliger Freund war riesen Star Wars-Freak und wollte mich immer Annie nennen...", sie lachte bei dem Gedanken.
„Wie Annie von Anakin Skywalker?"
„Genau so. Ich finde Thea aber schöner", lächelte sie und drehte sich wieder zu ihren Bildern um. „Siehst du diese Blume da?", fragte sie und ich schaute auf die Stelle, auf die sie zeigte. „Vielleicht ist es dir beim Einpacken aufgefallen, jedenfalls findest du auf fast jedem Bild von mir Blumen. Und wenn nicht auf dem Bild, dann bei meiner Unterschrift. Ohne geht es einfach nicht mehr. Das ist mein Markenzeichen. ... Achja, und die Schokolade ist mein eiserner Notnagel. Wenn ich mal wieder die Nacht durchmache, male und das Essen vergessen, sackt mein Kreislauf schneller in den Keller, als mir lieb ist. Und dann gibt's Schokolade, damit ich nicht wirklich noch umkippe. Mehr als das kann ich dir gerade aber auch nicht anbieten, tut mir leid", zuckte sie mit den Schultern und ich musste den ganzen Informationswust erst mal verarbeiten. Thea schien wohl doch nicht nur die immer gut gelaunte Künstlerin zu sein...
„Ich besorg uns erst mal was zu essen. Was Vernünftiges. Und dann machen wir weiter?", schlug ich schon ein wenig motivierter vor und achtete gar nicht auf Theas Proteste, sondern war schon aus der Tür hinaus. Einkaufen!
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Das Blumenmädchen (LeFloid)
FanfictionFlo hatte mehr als genug um die Ohren: Die Masterarbeit machte ihm das Leben schwer, YouTube musste laufen, auch wenn er keine Lust hatte, und in der Liebe schien er wohl auch kein Glück mehr zu haben. Nie wieder. Nicht nach allem, was er Ina angeta...