Kapitel 15 (part 2)

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                                                                  Abbie

Nachdem der Geistliche endlich mit seiner Rede geendet hatte – ich hatte mich schon mit dem Gedanken abgefunden, dass er erst in weiteren drei Stunden mit seinem Redeschwall fertig sei –, verfielen die Leute um mich herum in bitteres Schweigen. Auch wir standen schweigend vor den Gräbern. Die noch feuchte und frische Erde verbreitete einen angenehm erdigen Geruch. Ich ließ meinen Blick über die auf bizarre Weise schönen schwarzen Grabsteinen mit goldenen Aufschriften schweifen. Nur das Schniefen, Schnäuzen und leises Weinen und Jammern durchbrach die Stille und füllte die Luft mit Leid und Wehklage.

Wieso war das nur passiert?!

Wieso hatte ich das nicht voraussagen können?!

Wenn ich schon diese Kraft besitze, die anscheinend so nützlich sein soll, wieso habe ich den Angriff auf das Hauptquartier dann nicht gesehen. Wieso zeigen mir meine Visionen nie die Sachen die zu sehen wichtig und dienlich für uns sind. Ich fühlte mich so unnütz, so hilflos. Fehl am Platz. Bis jetzt konnte ich nicht wirklich behaupten, dass meine Gabe uns sehr viel weitergebracht hatte. Auch wenn Orelia behauptet, ich könnte mit der Zeit und mit etwas Übung meine Gabe lenken, und vielleicht sogar bestimmen was ich sehen will, so hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt jedenfalls noch nichts getan. Immer noch kamen und gingen die Visionen wann sie wollten. In letzter Zeit sogar weniger als für gewöhnlich.

Aber ich will helfen. Ich will lernen, meine Gabe zu kontrollieren. Lass mich die Zukunft sehen, richtete ich mich schweigend an ... ja an wen? An die Elemente? An meine Gabe? Ich atmete tief durch und versuchte mich zu konzentrierten. Jeden Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen, bis nur noch Platz für eine Sache war ...

Wo befindet sich die letzte Insignie?

Lass mich wenigstens das Versteck der Umbra sehen.

Irgendetwas.

Das musste doch möglich sein. Angestrengt blickte ich in die Ferne, hoffte darauf, dass mir meine Gabe irgendetwas zeigen würde, das uns weiterhilft.

Nichts geschah.

Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass sich der Friedhof bereits merklich geleert hatte. Ich stand bei meinen Freunden – ja, auch Xenia, Nolan und Fiete, bezeichnete ich als Freunde. Das war etwas völlig neues für mich – ich die ich sonst nur Jesper als einzigen Freund gehabt hatte. In den letzten Tagen und Wochen hatte ich so viele nette und bemerkenswerte Menschen getroffen. Ich habe Menschen kennengelernt, auf die ich mich verlassen kann und denen ich auch ohne weiteres helfen und beistehen würde.

Und genau diesen Leuten wollte ich nun helfen – den Menschen, die mir so ans Herz gewachsen waren und für die ich bereit war, so einiges zu tun. Sie hatten mich aufgenommen. Behandelten mich wie einen von ihnen. Also wollte ich ihnen etwas dafür zurückgeben.

Also bitte. Ich will die Zukunft sehen. Na los. Los.

Ein verschwommenes Bild – wie eine Fata Morgana – blitze vor meinen Augen auf. Versetzte mich wenn auch nur für einen kurzen Moment an einen anderen Ort. Das Bild war so schnell wieder weg wie es aufgekommen war.

Ich fuhr mir mit der Hand über die Augen und blinzelte ein paar Mal, nicht sicher, was genau ich da gerade gesehen hatte. Neben mir besprachen die anderen, wie es jetzt weiter gehen sollte, doch ich war im Moment nicht in der Lage mich auf ihr Gespräch zu konzentrieren sondern versuchte, das Bild wieder heraufzubeschwören. Egal wie. Ich war mir sicher, es würde uns weiterhelfen. Es musste einfach. Irgendetwas sagte mir, dass dieses Bild, was auch immer ich da gerade gesehen hatte, ein wichtiger Hinweis war.

Ich atmete tief durch und versuchte allein durch Willenskraft hervorzurufen, was eben zu schnell wieder verblasst war.

Komm schon.

Komm schon!

Und tatsächlich. Wieder blitzte das Bild vor meinem inneren Auge auf. Diesmal blieb es lange genug, damit ich erkennen konnte, das es sich dabei um ein Haus handelte. Ein ziemlich großes sogar. Ein prachtvolles Anwesen mit hellen cremefarbenen Wänden. Bevor ich jedoch genaueres ausmachen konnte, war es wiedermal verschwunden. Es entzog sich meinem Blick und meinem Verstand. Ich versuchte danach zu greifen, doch es flutschte mir davon wie ein Fisch im Wasser.

Frustriert fuhr ich mir erneut über die schweren Augenlider. Am Rande bekam ich mit, wie Xenia sich mit Fiete stritt – oder war es Jesper der sich mit Nolan stritt? –, doch ehe ich mich genauer damit befassen konnte, verstummten sie alle auf einen Schlag und ihre Stimmen wurden durch das laute Stimmengewirr von Fremden durcheinanderredeten Menschen ersetzt.

Ich riss die Augen auf und blickte mich verwundert um. Ich befand mich nicht mehr auf dem Friedhof auf dem wir eben noch die Gedenkfeier abgehalten hatten. Die weiten Felder und die Grabsteine waren verschwunden. Ebenso meine Freunde. Das grün der Bäume, Gebüsche und des Grases wurde durch die Braun- und Rottöne von Steinen ersetzt. Ich drehte mich einmal um mich selbst. Ich stand mitten in einer Stadt. Um mich herum wimmelte es von Mensch. Kinder, Jugendliche, alte Leute, junge Leute, Frauen, Mütter mit Babys auf den Armen, Männer ... es herrschte ein reges Treiben. Unter den Menschenmassen konnte ich sogar Leute ausmachen, die ich nicht als Mensch bezeichnen würde. Hier und dort standen Gestalten mit spitzen Ohren oder kleine geduckte Wesen dessen Haut an eine schrumpelige Kröte erinnerte. Im Großen und Ganzen ein bunter Mischmasch.

Hatte ich den Markt in Sānon – Nolans Heimatdorf – für chaotisch und gut besucht empfunden, so hatte ich damals diesen Ort hier noch nicht gesehen. Die Häuser, die die Straße säumten, waren nicht wie die in Sānon. Diese hier bestanden aus Stein und schienen viel stabiler und robuster zu sein - moderner. Auch die Straßen waren in einem deutlich besseren Zustand. Sie waren zwar nicht wie bei uns geteert aber sie bestand aus Pflastersteinen und nicht aus festgedrücktem Dreck und Staub. Auch in dieser Stadt, schrien die Verkäufer hinter ihren Ständen lautstark ihre Preise heraus und verkündeten jedem der vorbeiging welch gute Qualität ihre Waren hätten. Elektrizität konnte ich allerdings selbst in dieser Fortschrittlicheren Stadt wie dieser nicht entdecken – keine Straßenlaternen oder leuchtenden Neonschilder. Ein leichter Wind wehte durch die Straßen und Gassen und brachte den Geruch von Fisch und Salz mit sich.

Hatte ich es tatsächlich geschafft und eine Vision nur durch meine Willenskraft hervorgerufen? Ich konnte es noch gar nicht richtig fassen. Am liebsten hätte ich einen kleinen Freudentanz aufgeführt, aber dafür war jetzt keine Zeit.

Ich musste herausfinden, was mir meine Visionzeigen wollte.

Eagsúlia - Macht der ElementeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt