Kapitel 10 (part 2)

112 8 0
                                    

                                                                 Abigail

Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit.

»Gleich zwei Kelche? Was soll das bedeuten?«, fragte ich während mein Blick kontinuierlich von einem zum anderen Identisch aussehenden Kelch hin und her wanderte.

»Lass mich raten«, sagte Jesper. »Wählen wir den falschen, und entfernen ihn, wird irgendetwas passieren, dass uns ganz und gar nicht erfreuen wird. Vielleicht stürzt der ganze Raum über uns zusammen und begräbt uns unter lauter Staub und Schutt. Oder Pfeile schießen auf uns zu und löchern uns wie Schweizer Käse. Ziehen wir den richtigen, können wir gehen.«

»Und wie wissen wir, welcher der beiden der richtige ist?« Xenia sah Jesper fragend an. »Ich will ja nicht die Spielverderberin sein, aber hast du dir die Kelche überhaupt schon einmal angesehen? Für mich sehen die haargenau gleich aus. Ich sehe keinen Unterschied.« Sie zuckte leichthin die Schultern. »Wir könnten es einfach drauf ankommen lassen und auf gut Glück einen auswählen. Fifty-fifty.«

»Wir könnten es auf deine Weise machen, oder einfach nur das Rätsel hier lösen und das tun, was es von und verlangt«, kam es von Nolan. Er stand noch immer vor dem Altar und den Kelchen und zeigte nun unter den Löchern in der Wand. Und tatsächlich. Wie am Eingang, stand dort in den Fels geritzt ein Satz, den ich bis jetzt übersehen hatte.

»Begierde lässt dich sehen, was du willst, jedoch nicht das, was du brauchst«, las er laut vor. »Mehr steht hier nicht. Das ist alles.«

»Was?«, fragte Xenia verwirrt und blickte jeden von uns fragend an. »Und wie soll uns das jetzt dabei helfen, herauszufinden, welcher der beiden der richtige und welcher die Fälschung ist? Hätte da nicht so was in der Art stehen können wie, Nehmt den rechten nicht den Linken und ihr spaziert heraus mit einem Grinsen.«

»Begierde lässt uns sehen, was wir wollen... «, überlegte Jesper laut.

»Vielleicht, gibt es ja noch weitere Hinweise in diesem Raum?«

Xenia und Jesper verstreuten sich, um dieser Vermutung nachzugehen. Ich hatte zwar kein gutes Gefühl, was weitere Hinweise betraf, aber es zu überprüfen konnte nicht schaden.

Nolan blieb vor dem Altar stehen und starrte immer noch wie gebannt darauf. Ich stellte mich neben ihn und betrachtete noch einmal die beiden identischen Kelche. Der eine war das Spiegelbild vom anderen.

»Ich glaube nicht, das sie noch weitere Informationen die uns helfen könnten finden werden«, sagte Nolan und sprach so meine Gedanken laut aus. Ich antwortete nicht, zu sehr damit beschäftigt, herauszufinden, was dieser Satz uns sagen will.

Begierde lässt uns sehen, was wir wollen, aber nicht das was wir brauchen. Wir wollen den Kelch. Genau der, steht hier vor uns, sogar zwei. Zwei golden funkelnde Kelche. Wunderschön verziert, wenn auch für meinen Geschmack etwas zu pompös. Das was wir so sehr begehren stand genau vor uns. Zwei protzige Kelche, so wie ich sie mir vorgestellt habe – vergoldet, verziert und mit Edelsteinen noch veredelt. Jedoch waren sie nicht das, was wir brauchten.

Ich riss den Blick von den protzigen Kelchen los und sah nach unten auf den Altar. Mein Puls beschleunigte sich in freudiger Erwartung. Auch Nolan sah nach unten. Als sich unsere Blicke trafen, nickte er. Ich griff nach der veralteten und gerosteten Schale, die auf dem Altar neben den vereinzelten Knochen lag. Sie war zwar nicht das, was ich mir unter einem Kelch vorgestellt habe, viel aber auch noch unter diese Kategorie. Sie war deutlich kleiner als die beiden golden funkelnden Kelche in der Wand. Ich drehte sie in der Hand und musterte sie genauer. Wieder trafen sich Nolan und mein Blick. Seine waren nun weiter aufgerissen und wanderten wieder gebannt zu meinen Händen. Als ich mit dem Daumen über den Rost rieb, ließ sich der ohne Probleme entfernen und darunter kam Gold hervor. Mein Puls hatte jetzt solch ein Tempo drauf, dass ich fast befürchtete, mein Herz würde mir aus der Brust springen. Ich konnte es nicht fassen. Schnell wischte ich die Schale an meinem Oberteil ab, entfernte auch den restlichen Schmutz, bis sie komplett sauber war. Sie war nicht so prächtig verziert, wie die Kelche in der Wand. Eine schlichte goldene Schale ohne jedwegliche Schnörkel oder Edelsteine zur Verzierung. Und doch war ich mir absolut sicher, dass die Schale in meinen Händen, der Kelch der Einigung war nach dem wir gesucht haben. Für alle gut sichtbar und doch nicht von Interesse für diejenigen, die nach einem Kelch einer Göttin suchten. Wie das Rätsel uns bereits erklärt hatte. Gut versteckt für all diejenigen, die von Begierde geblendet waren.

»Wir haben ihn«, flüsterte Nolan ehrfürchtig. Seine Augen glitzerten vor Erregung und Freude. Ich konnte es nicht fassen. Nach all den umständlichen Nächten im Wald. Nach all den schlaflosen Nächten, aus Sorge, ein Tier könnte uns angreifen, nach langen anstrengenden Fußmärschen über Stock und Stein, nach Stunden schweißtreibenden Kampfeinheiten mit Nolan um zu lernen, wie ich mit einem Dolch umzugehen habe und nach vielen Enttäuschungen, hielten wir ihn endlich in den Händen – hielt ich ihn in meinen Händen. Ich ließ die Schale von einer Hand in die andere gleiten, wohl darauf bedacht, ihn nicht fallen zu lassen und ungewollte zu beschädigen. Ich beäugte ihn noch einmal. Mein Gehirn hatte noch immer nicht ganz realisiert, das sich nun endlich alles bezahlt machte. Es war zwar noch ein langer und beschwerlicher Weg, ehe sich alle fünf Insignien in unserem Besitz befinden würden, aber es war ein großer Schritt in die richtige Richtung.

Ich war so aufgeregt, am liebsten wäre ich Nolan um den Hals gefallen und hätte ihn geküsst. Einfach nur, weil ich überglücklich war und mich seine Reaktion nicht interessiert oder gekümmert hätte.

»Wir haben ihn«, schrie ich stattdessen lauthals, um Jesper und Xenia – die immer noch den Raum durchkämmten, um irgendeinen Hinweis zu suchen, den es nie gegeben hatte – die frohe Botschaft zu vermitteln.

»Wunderbar«, sagte da aus dem Nichts eine tiefe fremde Stimme hinter mir, die mir einen unangenehmen Schauder den Rücken runter laufen ließ. »Wärst du dann so freundlich, ihn mir zu überreichen?« 

Eagsúlia - Macht der ElementeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt