Außerordentlich sonderbare Traditionen

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24.12.2016, Richmond, England

Die gesamte Familie, also Sandra, Chris und ich waren um den Weihnachtsbaum versammelt. Gerade eben waren die letzten Noten von Stille Nacht verklungen und Chris knipste die Lichterkette, die er Stunden zuvor mühsam um den Baum gewickelt hatte, an. Das gelbe Licht verströmte ein Gefühl der Wärme und Gemütlichkeit und ich fühlte mich pudelwohl, hier bei meiner Familie.

"Oh mein Gott, ich glaube das Essen war schon zu lange im Ofen, Chris, wann habe ich das Fleisch rein?" Die Stille wurde von einer panischen Sandra unterbrochen, die gehetzt zur Küche rannte und von dort Entwarnung gab.

"Alles gut, gerade noch rechtzeitig!" Aber was wäre der Weihnachtsabend ohne Sandras wohlgemeinte Tolpatschigkeit und Chris, der es immer schaffte sie in jeder Situation zu beruhigen und den Abend zu retten? Und wohl auch ohne mich, die ich beide immer mit Ungläubigkeit beäugte und ab und zu die Augen verdrehte oder einen manchmal netten, manchmal genervten Kommentar abgab?

Ich vermisste keinen Abend mit einer großen Familie, nicht den erhöhten Geräuschpegel in einem Raum voller Leute oder die Komplimente, die eine Großmutter ihrer Enkelin machte. Nicht einmal das gemeinsame Essen und die Geschichten, manchmal peinlich, manchmal auch einfach nur zum Totlachen, über andere Verwandten.
Ich war glücklich mit meiner kleinen Familie und konnte mir nicht vorstellen, anders als mit ihnen zu feiern.

"So, hier." Sandra stellte den großen Topf auf die Mitte des Tisches und setzte sich, immer noch etwas gehetzt aber mit roten Wangen und einem Lächeln, das alles andere übertraf, zu uns an den Esstisch.

"Diesmal ist es echt gut geworden." Ich erinnerte mich mit Grauen an letztes Weihnachten, an dem sich Sandra eingebildet hatte, Elch kochen zu wollen. Abgesehen davon dass ich keine Ahnung hatte wie sie an ihn gekommen war, hatte sie das Kochen vollkommen vergeigt und uns am Ende ein schwarz schmorendes Fleisch serviert, dass nur noch sehr wenig Ähnlichkeit mit etwas essbarem zu tun hatte.
Aber ich wollte ja keine Vorurteile haben, dieses Mal ließ ich mich ganz auf das Essen und was es wohl auch immer mit sich bringen möge, ein.

Das Aussehen... war schon mal positiv zu bewerten. Und die Konsistenz... ich tippte mit der Gabel probeweise auf das Fleisch. Es zerfiel nicht, also konnte man ruhig probieren.

"Na dann... lasst es euch schmecken!" Ich warf einen Blick zu Chris, der sich aber ohne zu zögern ein Stück Fleisch abschnitt und seine Gabel zum Mund führte.

"Das schmeckt..." Ich kaute auf dem Fleisch herum und war nicht enttäuscht, mit jedem Bissen entfalteten sich neue Geschmacksnuancen. "...echt gut!" Überrascht sah Sandra auf.

"Wirklich, findest du?" Sie tauschte einen verliebten Blick mit Chris und dachte bestimmt schon über neue Rezepte nach.

"Ja, Schatz. Wirklich außerordentlich gut. Was ist das eigentlich für ein Fleisch? Rind?" Sie winkte ab.

"Quatsch, das wäre doch langweilig. Ich wollte mal was Neues ausprobieren und die hatten gerade Känguru im Angebot." Ich hörte auf zu kauen und konnte den Bissen im Mund nur mühsam herunterschlucken.

"Känguru? Sandra..." Mir fehlten die Worte. Chris anscheinend nicht. Der schien sich nicht daran zu stören und schob eine Gabel Känguru nach der anderen hinterher.

"Wo kriegst du das eigentlich immer her? Ich glaube nicht dass sie so was im Supermarkt anbieten."

"Ach, weißt du, ich kenn da einen der einen kennt..." Sie zwinkerte mir zu und war anscheinend begeistert von ihrem Känguruschenkel in Bratensoße.

"Noch ein bisschen Soße?"

"Nein danke." Ich griff eher zur vegetarischen Variante, in diesem Fall der Salat.

Something like sorceryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt