Handtaschenschwäche

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Sibirien, 28.Januar 2018

Die Kälte war mörderisch. Schneidend und unbarmherzig. Natürlich hatte ich das gewusst, ich war sicher nicht unvorbereitet in eine der kältesten Regionen der Welt gereist, aber trotzdem war es etwas ganz anderes es wirklich zu erleben als nur davon zu hören.

Wir saßen in einem Landrover, der über die verschneite Landschaft der sibirischen Hügel und Berge ruckelte. Wir waren am Ende der Welt, irgendwo im nirgendwo und das letzte Dorf hatten wir vor zwei Tagen passiert.

„Warum fliegen wir nicht einfach mit einem Hubschrauber hin?", hatte ich Alex gefragt, völlig überrascht von seiner plötzlich Abenteuerlust, sich in die Weite Landschaft zu begeben.

„Wir haben mehr Chancen deinen Vater zu finden wenn wir unangemeldet kommen. Außerdem haben wir dann vielleicht mehr Glück, dich unbemerkt reinzuschmuggeln. Sie wissen zwar von meiner Verbindung zu dir, aber ich glaube nicht dass sie erwarten dass ich dich direkt mitbringen würde."
„Also... könnten sie versuchen über dich an mich heranzukommen?",fragte ich Alex voller Angst.

„Könnte sein. Aber wenn wir ihnen keinen Anlass geben uns zu verdächtigen kriegen wir das hin."

„Und du meinst nicht dass es verdächtig ist sich eine Woche lang mit einem Truck durch die Eiswüste zu schlagen um dahinzukommen wenn es auch einen bequemeren Weg geben würde?"

„Schon möglich, Lou. Aber das würde nicht zu der Geschichte passen die ich mir ausgedacht habe."

„Alex! Hatten wir nicht ausgemacht dass du mich von jetzt an in ALLE Pläne einweihst?"

„Könnt ihr da vorne mal die Klappe halten? Wisst ihr eigentlich wie schwer es ist auf dieser Rückbank zu schlafen wenn das Auto gefühlt jede Sekunde über ein Schlagloch fährt und ihr dann auch noch die GANZE ZEIT REDET?", kam es von hinten, von einer sehr schlecht gelaunten Philine. Ich hatte zeitweise ganz vergessen dass sie überhaupt noch da war, die letzten Stunden hatte sie wie eine Tote geschlafen und ich hatte angenommen dass sie diese neue Art von Reise genoss. Da lag ich anscheinend falsch. Aber bitte, sie hatte doch unbedingt mitkommen wollen, dass das keiner ihrer Luxusurlaube werden würde hätte ich ihr auch schon davor sagen können.

„Sorry." Stille. „Alex?", flüsterte ich leise.

„Hm?", kam es grummelnd vom Fahrersitz zurück. Inzwischen war es draußen dunkel geworden und ich fragte mich, wie Alex in der Dunkelheit überhaupt den Weg finden konnte, Navi funktionierte hier nämlich nicht.

„Wolltest du mir nicht noch deinen Plan erklären?", hakte ich weiter nach.

„Da gibt es nicht viel zu erklären, wenn wir ankommen stelle ich euch als Freunde vor, die ich unterwegs aufgegabelt habe. Genauer gesagt in Kent's Harbour."

„Kent's Harbour?", fragte ich etwas dümmlich nach.

„Ein Anwesen in der sibirischen Prärie. Ziemlich bekannt für die außergewöhnlichen Gäste, insbesondere wahre Magier mit hohem Ansehen und Einfluss. Kent ist ziemlich vorsichtig, was seine Sicherheit angeht, deswegen kann man nur mit dem Auto hin." Ich fragte nicht, woher er das wusste.

„Und dein Plan hat keine Schwächen?"

„Das hat doch jeder Plan, oder?"



„Schau mal, und das sind die neuen Louis-Vuittons, was hältst du davon? Wenn du mich fragst war die letzte Kollektion ja nicht gerade on vogue, aber..." Philine brabbelte mich seit einer ganzen Stunde über die No-Gos der Fashionszene zu und ich bereute es, zu ihr auf die Rückbank gewechselt zu haben."

„Sag mal Philine, ist dein Handyakku nicht bald leer?" Sie scrollte nach unten und öffnete ein weiteres Bild einer Handtasche."

„Mach dir darüber keine Sorgen." Triumphierend holte sie einen tragbaren Akku aus ihrer Handtasche. Natürlich in pink. Ich brauche wirklich mal eine Pause.

„Alex, wie lange brauchen wir noch?" Wir fuhren jetzt seit drei Tagen durch die eisige Landschaft, hielte ab und an an und schliefen ein paar Stunden, wenn wir das nicht während der Fahrt taten. Ich war froh dass Philine Alex wenigstens manchmal am Steuer abwechselte, ich hatte leider noch keinen Führerschein und würde es mir auch nicht zutrauen, hier zu fahren.

„Fünf Stunden? Geschätzt, ich hoffe das ich es noch finde." 
„Dann... warst du hier also schon lange nicht mehr?", fragte ich neugierig nach. Alex seufzte.

„Das letzte mal vor einem Jahr. Damals wusste ich noch nicht... na ja, dass Viola im Chefsessel sitzt und ihren Neffen auf Schritt und Tritt überwacht."

Ich spielte mit einer Haarsträhne während ich aus dem Fenster sah und die Sonne beobachtete, die die weiße Landschaft in eine Weihnachtsmärchen. Meine Haare waren schwarz. Eine deutliche Veränderung zu meinen sonstigen dunkelbraunen Haaren. Aber Philine fand, dass mir die Farbe stand und ich vertraute auf ihr modisches Urteil. Außerdem war das allemal besser als blond, was mir eindeutig ein Schritt zu weit gewesen wäre. damit hätte ich mich selber nicht mehr erkannt.

Philine hatte das Thema Verkleidung zu einem ganz neuen Level erhoben, ich persönlich glaubte dass sie einfach zu viele Spionagekrimis gelesen hatte. Zu ihrer neuen Frisur, einer Dauerwelle und ihren Türkisen Strähnen, hatte sie sich einen ganzen Koffer mit neuer Garderobe zugelegt. Wobei ich nicht wusste, wie man mit einer dicken Schicht Wolle in Sibirien noch modisch sein konnte. Außerdem hatte sich ihre Gestik eindeutig verändert und sie benutzte einen stärkeren französischen Akzent.

Als ich sie gefragt hatte, ob sie das denn nicht ein bisschen zu übertrieben fand, hatte sie geantwortet: „Zu einer guten Verkleidung gehört auch immer eine neue Lebenseinstellung, Lou. Ich bin ein Hippie." Alles klar.

Und hier war ich nun, im Auto mit einem Herzensbrecher und einem Hippie mitten im Nirgendwo.

Die Stunden zogen sich wie klebriger Honig, wenn man nichts anderes als Schnee, Berge und noch mal Schnee sah. Spannender wurde es erst, als wir von unserer kaum erkennbaren Straße in den Tälern auf einen schmalen Pfad nach oben abbogen.

„Okay, jetzt wird es ernst. Erinnert euch daran: nichts sagen, schaut einfach gelangweilt und... äh... arrogant", coachte uns Alex.

Es dauerte dann aber doch noch eine Weile bis es wirklich ernst wurde. Der Pfad schlängelte sich unendlich weit nach oben, immer höher und der Abhang auf der anderen Seite wurde immer tiefer. Ich musste mich zusammenreißen um nicht in Panik auszubrechen, Abhänge waren nicht gerade meine Stärke. Besonders nicht wenn die Straße völlig vereist war.

Plötzlich durchschnitt ein lautes Brummen eines Motors die sonst so stille Luft. Ich beugte meinen Kopf um einen besseren Blick nach oben zu haben. Ein Helikopter flog schnurstracks auf ein Ziel hinter einer Bergkuppe zu, dass nur für ihn erkennbar war. Aber wir wussten alle, was das hieß. Jetzt war es nicht mehr lang, bis ich das Hauptquartier der wahren Magier und damit vielleicht meinen Vater mit eigenen Augen sehen würde.

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